Zuflucht
„Setz dich“
Noah zeigte auf das Bett, er selbst setzte sich Nacra gegenüber auf einen Sessel. Die Frau zögerte kurz, setzte sich aber wortlos.
„Du willst über Grim reden?“
Der Mann nickte leicht.
„Als ich erfahren habe, dass du alleine in Parsifal unterwegs warst, war ich verwirrt und… etwas besorgt“
Er hielt für einen Moment inne.
„Ist er… tot?“
„Ja“
Die Antwort kam schneller als gedacht. Noah schaute auf und sah, dass Nacra sich anspannte.
„Wir wurden überfallen“
Nacra schluckte.
„Ich dachte, ich könnte…“ sie brach ab „Es… es war meine Schuld“
Noah verzog den einen Mundwinkel.
„Es ist nicht deine Schuld, Nacra“
Er sah wie ihre Lippen zitterten. Ihre Stimme war heiser.
„Doch. Ich war zu spät bei ihm… Wäre ich nicht so langsam gewesen, dann wäre er vielleicht noch am Leben“
Mittlerweile zitterte sie am ganzen Körper.
Bevor Noah etwas sagen konnte, knallte ein kleiner Junge die Tür auf und lief auf den Kapitän zu, um ihm einen Brief zu geben.
„Ein Bericht aus Parsifal“
Der Mann dankte ihm für den Brief, ermahnte den Jungen aber, weil er einfach so rein geplatzt war.
Noah wartete bis sich wieder die Tür schloss, dann öffnete er den Briefumschlag, aber bevor er sich den Bericht anschauen konnte, riss Nacra ihm das Papier aus der Hand und überflog die ersten Zeilen.
Dann blieb ihr Blick an einer Stelle stehen. Nacra las sich den Satz noch einmal durch. Sie presste die Lippen aneinander.
Sie flüsterte.
„Sie haben mich beerdigt“
Nacra schaute auf und sah in Noahs mitleidige Augen. Ihre eigenen waren glasig vor Tränen.
„Sie denken, ich wäre tot“
Niedergeschlagen senkte sie den Blick.
Ihr Herz tat weh.
Alle dachten, ihr Licht wäre erloschen.
Sie existierte nicht mehr. Offiziell zumindest nicht.
Noah wurde es langsam schwer ums Herz, als er Nacras leere Augen sah. Er fühlte sich schuldig. Er war in all das verwickelt. Er brachte sie weg von ihrer Heimat.
Sie hatte so vieles in ihrem Leben verloren. Und jetzt? Jetzt nahm er ihr noch ihr Zuhause und ihre Freunde weg.
Anfangs hatte er nicht gewusst, dass es Nacra war, die auf Midas Liste stand. Kaladan hatte ihn lediglich gebeten, ihm bei einer Entführung mitzuhelfen. Natürlich wusste er, dass das was er machte, falsch war. Aber er hatte keine andere Wahl. Midas bezahlte seine Leute gut. Ohne das Geld, könnte er nicht für sich, seine kleine Schwester und Orel sorgen.
Aber jetzt, wo er Nacra so sah, bereute er es von ganzen Herzen.
Sie war nicht die Erste, die er an Midas verschifft hatte.
Davor hatte er die Entführten nie gesehen, weil alles immer Nachts erledigt wurde und er nur für das sichere Hinbringen zuständig war. Er hatte nie ihre trübseligen Augen zu Gesicht bekommen oder mitgekriegt, wie am Boden zerstört sie waren.
Er nahm sich vor, mit den Entführungen aufzuhören. Er hatte keine Lust mehr, das Leben anderer zu zerstören.
Die Schuldgefühle häuften sich und irgendwann würde er ihnen unterliegen, wenn er so weiter machen würde.
Er entschied, Nacra unter keinen Umständen verkaufen zu lassen.
Für Ihn selbst. Für Sie und für Grim, seinen langjährigen Freund.
Noah streckte die Hand nach dem Bericht aus. Sie sollte am Besten nicht mehr weiterlesen.
„Komm, gib es mir…“
Aber Nacra rührte sich nicht.
Sie hatte bereits weitergelesen und etwas weiteres gefunden.
Langsam blickte sie auf. Ihre Wangen waren tränenüberströmt und doch lächelte sie.
Aber das Lächeln war nicht echt.
Sie zerbrach innerlich.
Nacra übergab den Bericht an Noah. Dann sah er es auch.
Einer unserer Leute hat Jacob Wolf, den Verlobten der Sklavin Nr. 56, mit einer anderen Frau gesichtet. Jacob hat dieser einen Antrag gemacht.
Noah ärgerte sich und er spürte, wie es in ihm anfing zu kochen.
Wie konnte man nach so kurzer Zeit, sich eine Neue anschaffen.
Vermisste dieser Mann überhaupt seine Verlobte?
Kein Funke Respekt.
Er schüttelte den Kopf und las die letzten Sätze des Berichts.
Sklavin Nr. 56 ist in Parsifal als tot erklärt.
Untersuchungen zu diesem Fall wurden eingestellt.
Nacra Lehmerox gehört der Vergangenheit an.
Ohne nachzudenken, setzte sich Noah neben Nacra aufs Bett und umarmte sie.
Nacra zuckte kurz zusammen, zögerte, erwiderte die Umarmung aber.
Sie schniefte.
„Ich kann nicht mehr“
Es war, als ob sie keine Luft bekommen würde. Als würde sie in einem Meer voller Schmerz und Leid ertrinken.
Noah streichelte ihren Kopf.
Er war so warm. Schon lange wurde sie nicht in den Arm genommen.
Erst jetzt wurde sie sich bewusst, wie sehr sie das Gefühl von Sicherheit und Zuflucht vermisst hatte.
Nacra vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter.
„Danke, Noah“
Noah lächelte und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Dann schob er Nacra kurz von sich weg, um ihr in die Augen zu schauen.
„Ich werde nicht zulassen, dass du versklavt wirst. Sobald wir im Hafen ankommen, verschwinden wir. Es tut mir Leid, dass es soweit gekommen ist. Ich werde das wieder gut machen.“
Noah zog sie wieder an sich.
„Ich werde bei dir bleiben, bis du in Parsifal angekommen bist“