Name: Thalyra Vexarys
Spitzname: Lyra, Vex
Der Name Thalyra Vexarys in Alt-Valyriath.
Geschlecht: weiblich
Alter: 66 (geboren 17.08.3437 n.V.V.)
Rasse: Elfe – Valyrianthi
Wohnort: Wildnis (zukünftiges Tempelviertel auf Thur’Valarys)
Herkunft: Dohaeragon / Vinyamar
Religion: Die Zwölf Drachengötter
Beruf / Beschäftigung: Tempelhüterin (Valyr’tharion) von Thur’Valarys
Aussehen & Merkmale
Aussehen & Merkmale:
Thalyra ist eine Erscheinung aus Schatten und Licht: Ihre Haut trägt das tiefe Ebenholz der Valyrianthi, doch ihr Haar leuchtet in silbrigem Weiß – ein Merkmal, das einst Fluch und Stigma zugleich war. Ihre Augen sind in einem kühlen Blau gehalten, natürlich und klar, wie bei wenigen ihres Volkes. Eindrucksvoll, aber nicht einschüchternd ist sie mit einer Grösse von 1.83 Metern – sie wirkt präsent, ohne dominierend zu sein.
Als Tempelhüterin trägt sie ausschließlich weiße Gewänder, schlicht aber fein verziert. Symbolische Stickereien in Gold oder Beige schmücken den Saum, meist florale oder mondähnliche Muster. Gelegentlich trägt sie dazu einen blauen Schal oder einen leichten Umhang – eine Farbe, die Morwyna, der Göttin der Nacht, geweiht ist.
Stärken & Schwächen:
Stärken & Schwächen
Stärken:
- Geistige Standhaftigkeit – bleibt auch in unsicheren oder bedrängenden Situationen ruhig.
- Empathisches Gespür – erkennt Spannungen und Sorgen bei anderen schnell.
- Disziplin & Ritualtreue – lebt den Glauben mit Hingabe und Präzision.
- Würde & Ausstrahlung – wirkt auch ohne Worte präsent und respektgebietend.
Schwächen:
- Keine Kampffähigkeiten – ist in Gefahrensituationen körperlich schutzlos.
- Verschlossenheit – spricht nicht über ihre Herkunft, was Nähe erschwert.
- Unnachgiebige Strenge – stellt hohe Anforderungen an andere im Glauben.
- Schlafstörungen / Traumlast – leidet selbst unter unruhigem Schlaf und tiefen, belastenden Träumen.
Charaktereigenschaften:
Charaktereigenschaft
Thalyra ist sanft in Stimme und Bewegung, doch hart im Geist. Ihre Worte sind selten, aber durchdacht. Sie nimmt Leid wahr, ohne es immer auszusprechen, und begleitet andere eher durch Dasein als durch Belehrung. Gleichzeitig ist sie kompromisslos in Glaubensfragen – wer sich der Götter weiht, muss bereit sein, alles Irdische zurückzulassen. Ihre Verschlossenheit schützt sie, doch lässt sie oft einsam wirken.
Fähigkeiten:
Fähigkeiten
- Ausgeprägte Kenntnis ritueller Abläufe und liturgischer Gesänge
- Erfahrung in der Anleitung von Novizen und Durchführung heiliger Feste
- Ausgeprägte Beobachtungsgabe
- Grundwissen in Tempelverwaltung
- Kenntnis der Schrift- und Lautsprache Alt-Valyriath
- Kalligraphie – zur Anfertigung und Pflege heiliger Schriften
„Der Glaube brennt nicht im Feuer – sondern im Schatten, der bestehen bleibt.“
Die uralten valyrianthischen Runen, einst tief in den Krypten Dohaeragons gelehrt, leben weiter in der Hand jener, die sie nicht als Waffe, sondern als Werkzeug der Ordnung verstehen. Thalyra wirkt ihre Magie in tiefer Einkehr, in Stille – und in Verantwortung.
Rune des Schreckens
Lor’Shalaryn – Schatten der Furcht
Eine halbkreisförmige Rune mit offenen Spitzen, die wie zwei Augen auf das Ziel starren. Ihre Linien ziehen sich langsam zusammen, als würde sie das Herz des Gegners erkennen. Ihre Farbe ist tiefviolett mit silbernem Glanz, ihr Erscheinen geht mit einem dumpfen Vibrieren einher – wie der Atem einer Gottheit in der Dunkelheit.
Das Ziel wird von lähmender Furcht ergriffen und kann sich für kurze Zeit nicht bewegen. Gleichzeitig schützt es eine geistige Barriere – die Verteidigung steigt. Die Rune erschüttert, nicht vernichtet.
→ (Lähmung und Verteidigungsboost auf Opfer)
Originalbeschreibung
Rune des Schreckens
Diese Rune thront über allen anderen Runen und gibt dem Ziel ein sehr unangenehmes Gefühl. Es erschüttert das Ziel so sehr, dass es sich vorerst nicht bewegen kann. Diese Rune soll aber nur erschrecken, nicht töten, deshalb gibt es dem Ziel höhere Verteidigung.
→ (Lähmung und Verteidigungsboost auf Opfer)
Zauberfessel
Naer’Syraeth – Siegel der Stille
Ein geschlossener Kreis aus ineinander verschlungenen Linien, die sich spiralförmig nach innen ziehen. Die Rune erscheint auf der Stirn des Ziels – silberweiß, flackernd, wie gezeichnet aus Dunst und Glut. Ihre Struktur erinnert an eine gefangene Flamme in einem Spiegel. Magische Fähigkeiten des Ziels werden für eine gewisse Zeit blockiert. Die Rune lässt das Ziel verstummen – geistig wie magisch.
→ (Magieunfähigkeit)
Originalbeschreibung
Zauberfessel
Diese Rune ist eine alte Rune der Urahnen im Eis. Sie diente damals, genau wie heute, dem Ziel, die magischen Fähigkeiten eines Wesens zu unterbinden. Wird sie auf ein Ziel angewandt, so zeichnet sie sich glühend auf dessen Stirn.
→ (Magieunfähigkeit)
Heilende Schrift
Elen’Vaerys – Pfad der Heilung
Eine fließende, halbkreisförmige Rune, die wie ein Blatt oder eine Mondsichel wirkt. Sie glimmt in blassem Türkis, umrandet von pulsierendem Weiß. Wenn sie auf die Haut gezeichnet wird, breitet sich ein leiser Nebel aus, der die Wunde bedeckt und beruhigt. Wunden heilen langsam und würdevoll. Die Rune lindert Schmerzen und fördert die natürliche Regeneration – sowohl physisch als auch symbolisch.
→ (Heilung)
Originalbeschreibung
Heilende Schrift
Eine heilsame Rune wird vom Zauberer gezeichnet. Sie legt sich sanft über die Wunde eines Zieles und lässt diese langsam verheilen.
→ (Heilung)
Unerbittlicher Stoß
Vael’Torakryn – Stille Verstoßung
Eine große, aufrechtstehende Rune – in ihrer Form einem geöffneten Tor ähnlich. Ihre Linien bestehen aus verdichteter Schattenenergie, durchzogen von pulsierendem Silberschein. Wenn die Rune sich schließt, schießt sie nach vorne – nicht als Lichtstrahl, sondern als unsichtbare Druckwelle, begleitet von einem grollenden Klang wie ferner Donner. Das Ziel erleidet Schaden und wird mehrere Meter zurückgestoßen. Es ist kein Angriff der Wut, sondern ein Akt der Zurückweisung – die heilige Grenze der Zwölf wird damit verteidigt.
→ (Schaden + Rückstoß)
Originalbeschreibung
Unerbittlicher Stoß
Der Zauberer zeichnet eine menschengroße Rune vor sich. Ist sie vollendet, schließen sich ihre Ränder, und sie jagt mit gewaltiger Wucht auf das Ziel zu. Es verursacht Schaden und stößt zugleich mehrere Meter zurück.
→ (Schaden + Rückstoß)
„Nîn dor erin thal-sil Morwyneth, ven-thal aenor, erin andhalor 3437 n.V.V., erin Melareth — erin nocthaerl, dan silar’loren.“
Ich wurde geboren am 17. Morwyneth, einem Freitag, im Jahr 3437 n.V.V. – mitten in der Nacht, bei Vollmond. Ein schicksalshafter Tag - für alle in ganz Dohaeragon. Warum? Aufgrund meiner Herkunft. Nicht wegen meines Vaters wegen, der sich als talentierter Schneider einen Namen machte, der die Roben des Priestertums schneiderte, der ebenholzfarbene Haut hatte, der mich alleine aufzog. Nein. Sondern meiner Mutter wegen. Ich kann euch nicht sagen, wie ihr Name lautet. Ich kann euch nicht sagen, was ihre Berufung ist. Ich kann euch nicht sagen, wer sie ist. Ich kann euch nur sagen: Sie ist eine der stolzen Töchter des Hauses Aelasar. Ja, jenes Haus, das über uns Valyrianthi herrscht. Jenes königliche Haus mit silbernem Haar. Jene Nachkommen von Valeryon und Visenya.
Setzt euch hin und hört euch meine Geschichte an - denn ich erzähle sie nur einmal:
Das silberhaarige Bastardkind
Am Tage des 18. Morwyneth, als die Sonne gerade aufging, lag vor der Türschwelle von Vaemion Vexarys, einem Schneider, ein kleines Bündel - eingewickelt in einem blauen Tuch. Ein edler aussehender Brief lag auf der Brust des Bündels. Eine kleine Faust hielt das Stück Pergament eisern fest.
Voller Schock und Unglaube, mit weit aufgerissenen Augen, blickte Vaemion auf das Bündel runter. Ein silberner Haarflaum konnte er erkennen. Obwohl er sofort erkannte, dass es sich um ein hilfloses, unschuldiges Neugeborenes handelte, war er gewillt, die Türe einfach zu schliessen - denn dies war offenbar ein Bastard der Königsfamilie. Die Männer des Hauses Aelasar war dafür bekannt, so einige aussereheliche Stelldichein zu haben. Doch er hatte Mitleid.
“Wessen Blut auch in deinen Adern ruht – das Haus der Vergessenen wird dir ein Dach sein, wenn schon die Sterne dich meiden”, murmelte er leise vor sich hin.
Nach einem langen, tiefen Seufzen bückte sich der hochgewachsene Valyrianthi. Sein dunkles, langes Haar, welches zu vielen kleinen Zöpfen geflochten war, fiel ihm dabei über die Schultern und teilweise ins Gesicht. Er hob das kleine Bündel hoch und trug es in sein Heim rein.
Sanft legte er das Bündel auf sein Bett nieder. Erneut seufzend nahm er vorsichtig den edlen Brief an sich und inspizierte ihn. Der Brief war durch ein Wachssiegel ohne Wappen versiegelt. Er brach das Siegel und rollte die Schriftrolle auf. Leise begann er zu lesen.
An Vaemion Vexarys, Schneider zu Dohaeragon,
Dieses Kind ist euer eigen Fleisch und Blut – daran bestehen keinerlei Zweifel.
Es trägt in sich zwei Linien: eure, aus der Tiefe dieser Stadt, und jene, deren Name nicht genannt werden darf. Was ihr nun bei euch tragt, ist eine Verantwortung, die ihr nicht gesucht habt – und doch werdet ihr ihr gerecht werden. Ich überlasse euch das Mädchen im Vertrauen darauf, dass ihr ihr Zuflucht, Nahrung und ein ruhiges Leben gewähren könnt. Ihr Name sei Thalyra.
Um ihren Unterhalt zu sichern, wird euch für jede Lieferung an das ehrwürdige Priestertum von Dohaeragon künftig eine Zuwendung in Höhe von einhundert Talern gewährt. Dieses Abkommen bleibt unangetastet, solange das Kind lebt und versorgt wird.
Möge eure Nadel fest bleiben und euer Herz still.
Na sîlthar valyrion hathar erin gwathren.Ein gezogener silberner Faden am unteren Rand war die einzige Unterschrift.
“Ach Liebste…”, murmelte Vaemion, ehe er auf das Bündel blickte. Ihm war klar, dass die Spione des Palastes nun sein Haus beobachteten. Würde er das Kind aussetzen oder es ins Waisenhaus bringen, würde dies sein Tod bedeuten. Doch das Kind mit dem silbernen Haar zu behalten, war ein Risiko für ihn. Bastardkinder der Söhne des Hauses Aelasar waren normal. Die armen Frauen, die das Bastardkind aufziehen mussten, wurden oft als Dirnen bezeichnet - doch sie konnten oft noch ihr Leben leben.
Aber das Töchter des Hauses Aelasar Bastardkinder zeugen? Das kam noch nie vor. Vermutlich würden die Leute denken, er hätte eine der Prinzessinnen vergewaltigt oder er hätte das Kind einer “Dirne” abgenommen.
Erneut seufzend blickte er zum Kind: „Thalyra“, flüsterte er – als spräche er den Namen eines Sterns, der ihm zugefallen war. „Solange ich atme, soll kein Schatten dich verschlingen.“
Aller Anfang ist schwer
Die Jahre vergingen. Aus dem Bündel wuchs ein aufgewecktes Kind heran, das ihrem Vater auf Schritt und Tritt folgte. Gekleidet in einem einfachen Jute-Kleid und einem blauen Stoff als eine Art Kopftuch, um ihr silbernes Haar zu verdecken, hatte man zunächst ihre Herkunft nicht bemerkt. Doch beim wilden Spielen mit gleichaltrigen Kindern verrutschte ihr Kopftuch und von diesem Tag an wusste jeder, dass sie ein Bastardkind des Hauses Aelasar war. Es gab wilde Gerüchte über das Mädchen.
Manche behaupteten, sie sei die Tochter einer Palastdienerin, die heimlich mit einem Prinzen geliebt hatte. Andere flüsterten, sie sei das Kind des Schneiders und einer Prinzessin - gewaltvoll gezeugt. Andere fürchteten, sie sei das Ergebnis eines verbotenen Rituals oder eine von den Göttern gesandte Mahnung an das Haus Aelasar. Doch was auch immer die Wahrheit war – sie war eine Gefahr. Nicht, weil sie selbst etwas getan hätte, sondern weil ihre bloße Existenz Zweifel säte. Zweifel an der Reinheit des Blutes, an der Unantastbarkeit des Königshauses - so wie jedes andere Bastardkind.
Die anderen Kinder begannen, sie zu meiden. Aus dem verspielten Mädchen wurde ein stilles, beobachtendes Wesen. Ihr Vater tröstete sie oft mit Worten wie: „Nicht die Lauten ändern die Welt, Thalyra, sondern die Standhaften.“ Er lehrte sie, Stoffe zu erkennen, Fäden zu spinnen, Farben zu mischen. Doch wenn sie allein war, zog es sie nicht zur Schneiderei, sondern zu den Tempeln. Besonders ein Tempel hatte es ihr angetan: der Tempel Morwynas, verborgen zwischen hohen Mauern und Schattenbögen, immer kühl, immer ruhig. Dort flüsterte der Wind anders, dort brannten die Kerzen nicht, sie glommen.
Mit zehn Jahren begann sie, heimlich Zeremonien zu belauschen. Sie prägte sich die Worte der Vestalinnen ein, lauschte ihren Gebeten. Bald konnte sie einige Liturgien auswendig. Als sie zwölf war, bemerkte eine ältere Priesterin, Elyssa Daronys, das Mädchen, das oft stumm in der letzten Reihe kniete. Und statt sie zu vertreiben, stellte sie ihr eine einzige Frage:
„Was suchst du, wo nur Schatten wohnen, Kind?“
Thalyra antwortete: „Weil die Schatten sanft sind. Sie fragen nicht, woher ich komme.“
Elyssa nahm sie unter ihre Fittiche. Sie brachte ihr Lesen bei, lehrte sie das Schreiben und gab ihr Zugang zu abgeschriebenen Schriften. In der Dunkelheit der Krypta lernte Thalyra, dass nicht alles, was im Schatten liegt, böse ist – und dass nicht jedes Licht rein leuchtet.
Die neue Novizin
Mit einundzwanzig Jahren trat Thalyra in das Schweigen ein, das den Pfad der Erkenntnis säumt. Mit Stolz und Furcht zugleich, begleitete Vaemion seine Tochter zum Tempel Morwynas. Er verstand ihre Faszination für Morwyna nicht wirklich, doch er akzeptierte ihre Entscheidung, die drei Tage der Stille, vor ihrer Initiation, dort verbringen zu wollen. So konnte ihr nichts geschehen.
Drei Tage verbrachte sie in völliger Stille – allein in einer abgelegenen Kammer unter dem Tempel Morwynas, fern von Stimmen, fern von Licht. Nur das Tropfen von Wasser, das Knacken alter Steine und ihr eigener Atem begleiteten sie. Kein Wort verließ ihre Lippen. Kein Blick ging über das Pergament, das sie langsam, Zeile für Zeile, mit ihren Gelübden füllte. Nicht mit Tinte, sondern mit einer Mischung aus Asche und Wasser – Symbol der Vergänglichkeit und des Neubeginns.
Am Morgen des vierten Tages wurde sie schweigend aus der Kammer geführt. Zwei Geweihte begleiteten sie zum Ritualbad – ein rundes Becken, eingefasst von silbernen Mosaiken, in deren Mustern die Gesichter der Götter zu schlafen schienen. Sie trat in das kalte Wasser. Es umhüllte sie wie ein lebendiger Schleier. Ihre Lippen formten kaum hörbar den alten Spruch:
„Wie das Wasser mich umhüllt, so soll mich die Weisheit der Zwölf erfüllen.“
Dann wurde sie zur Flammenprüfung geleitet. In der Halle der Zwölf, einem runden Raum mit zwölf brennenden Altären, kniete sie nieder. Um sie herum flackerten die Flammen – je eine für jede Gottheit. Die Hitze war nicht brennend, sondern reinigend. Für jede Flamme legte Thalyra eine Gabe nieder – klein, unscheinbar, aber bedeutungsvoll:
- Für Morwyna, Göttin der Dunkelheit, des Mondes und der Nacht: ein schwarzes Blatt des Schattenbaums, silbern geädert – Symbol nächtlicher Tiefe.
- Für Helianthor, Gott der Sonne, des Lichts und des Tages: ein Streifen vergoldetes Pergament, das im Licht schimmerte.
- Für Valyndor, Gott des Todes: ein winziges Fragment eines verbrannten Gebetsbandes – ein Wort, das einst gesprochen wurde und nun vergeht.
- Für Vayandria, Göttin von Leben, Zeit und Schicksal: eine Sanduhr mit einem einzigen, noch fallenden Korn – Symbol des Moments.
- Für Alandria, Göttin der Weisheit und Zauberkunst: ein eingerolltes Schriftstück mit einer einzigen, verschlüsselten Zeile – Erkenntnis, die nur Eingeweihten offenbart wird.
- Für Varthorin, Gott des Krieges und der Jagd: eine Pfeilspitze aus Obsidian, stumpf und unbenutzt – Kraft, die nicht verletzt.
- Für Zephyria, Göttin des Wetters und der Reise: ein Federchen eines Sturmvogels, getragen vom Wind.
- Für Aurimor, Gott des Handwerks und der Tugenden: ein kleiner Spulenring aus geschwärztem Silber – einst von Vaemion selbst gefertigt.
- Für Verdantia, Göttin der Natur und Ernte: ein Samenkorn in einem Tropfen frischer Erde.
- Für Marindor, Gott des Meeres: eine Muschel, innen schimmernd, außen rau – Zeichen für Wandel.
- Für Elyndra, Göttin der Liebe und Geburt: ein rotes Band, einst in der Wiege getragen, aus Vaemions Nähkasten.
- Für Elidrian, Gott der Heilung: ein Tropfen Öl mit Kräuterduft, geträufelt auf einen weißen Streifen Stoff.
Nachdem die letzte Gabe im Licht verglommen war, erhob sich Thalyra. Ihre Stimme war klar, von einer Ruhe getragen, die sich nicht erzwingen ließ:
„Ich, Thalyra Vexarys, Kind der Flamme, schwöre, in Weisheit zu leben, die Zwölf zu ehren, ihre Ordnung zu wahren. Möge ihr Zorn auf mich fallen, wenn ich je von ihrem Pfad weiche.“
Als Zeichen ihrer Reife legte man ihr ein Amulett um – eine mattglänzende Metallplatte, schlicht und flach, in deren Oberfläche das Mondsymbol Morwynas eingraviert war. Kein Prunk, kein Aufsehen – nur ein stilles, ewiges Zeichen ihrer Bindung.
So verließ sie die Halle der Zwölf – nicht gefeiert, nicht beklatscht. Sondern in Stille. Wie es Morwyna gefiel.
Als frische Gläubige und vollwertiges Mitglied der Valyrianthi, fing nun der Ernst des Lebens für Thalyra an. Sie hätte natürlich das Handwerk ihres Vaters lehren können, doch sie entschied sich, als Novizin den Weg einer Glaubenstochter zu gehen.
So versammelte sich eine Schar von Novizen und Novizinnen in Novizen-Weiß, am Drachenfürbitten-Tag, vor dem großen Drachentempel in Dohaeragon.
Die Luft war erfüllt vom Duft verbrannter Harze und gewürzter Öle. Der Tempelhof war über und über geschmückt mit Drachensymbolen – geschnitzte Flügelpaare aus Bernstein, goldene Augen aus Glas, Opfertücher in Violett, Grün und Blau, die im Wind flatterten wie Banner längst vergessener Zeiten. Zwischen den Säulen leuchteten Schalen mit Rauch und Licht. Man konnte nicht sagen, ob es Tag oder Traum war.
Thalyra stand schweigend zwischen den anderen. Ihre weiße Robe war schlicht, doch makellos – genäht von Vaemions eigener Hand. Auf ihrer Stirn lag ein feiner Schatten, geworfen vom Relief eines Drachenhauptes über dem Tempelportal. Ihre Augen wanderten nicht, ihr Atem war ruhig. Nur ihre Hände, aneinandergelegt im Gebetsgriff, waren kalt.
Ein Priester trat vor, gekleidet in Gewänder aus weisser Seide und dunklem Gold – das Zeichen der Drachengötter auf seiner Brust. Seine Stimme war alt, aber klar, als er sprach:
„Wer von euch tritt in den Kreis des Dienstes? Wer legt Leben und Stolz ab, um Werkzeuge der Zwölf zu werden?“
Keiner antwortete. Doch alle traten vor – auch Thalyra. Einer nach dem anderen reichte dem Priester ein Symbol des Verzichts. Ein Ring. Ein Spiegel. Eine Locke Haar. Thalyra öffnete ihre Hand und zeigte eine kleine, abgewetzte Nadel – aus Holz, nicht Metall. Ein Werkzeug ihres Vaters. Ein letztes Band.
„Sieh, was ich war. Sieh, was ich opfere“, flüsterte sie leise, nur für sich selbst.
Der Priester nahm die Gabe und nickte. Dann trat er zurück und sprach die Worte, auf die sie alle gewartet hatten:
„Von diesem Tage an seid ihr Lironar. Novizen im Dienste der Zwölf.
Ihr seid Asche im Wind – und doch seid ihr Funken in der Glut.
Geht – und lernt, was ihr vergessen habt.“
Novizinnenzeit
Die ersten Monde als Novizin verliefen still. Während andere Lironar sich in Gruppen fanden, lachten, diskutierten, plagten, zog sich Thalyra meist zurück. Nicht aus Arroganz – sondern aus Gewohnheit. Der Tempel war ihre Heimat lange bevor sie das weiße Gewand trug.
Manche der jungen Novizen sahen sie mit Neugier, andere mit Vorsicht. Ihre Herkunft war ein offenes Geheimnis, ihr Schweigen ein Mantel, der nur selten Falten warf. Doch es war nicht Einsamkeit, die sie umgab – es war Fokus. Die rituellen Abläufe, die Liturgien, die alte Sprache, die Ordnung der Altäre – all das war ihr vertraut. Sie kannte den Grundriss des Tempels besser als ihre eigenen Handlinien.
Und dann war da Elyssa Daronys.
Die alte Priesterin, längst nicht mehr für die aktive Lehre eingetragen, kehrte ihretwegen zurück in den Novizenflügel. Niemand fragte, warum. Niemand wagte es, den Grund zu nennen. Aber als Elyssa ihre zerbrechliche Gestalt durch den Korridor trug, als ihre von Tinte gefärbten Finger das Pergament überflogen, wusste jeder: Diese hier war ihre Schülerin.
Thalyra besuchte sie fast täglich in der Schreibstube – einem schmalen Raum voller Lampenölgeruch, Regale und Staub. Dort lehrte Elyssa sie die Kunst der Tempelabschriften, die heilige Struktur der Sätze, das Gewicht eines Wortes, das in Flammen gesprochen werden konnte. Unter ihrer Hand lernte Thalyra nicht nur Valyriath zu verstehen – sie lernte es zu fühlen.
„Ein Wort ist nicht nur Klang“, sagte Elyssa einmal, während sie ihr über die Schulter sah: „Es ist das Messer, das trennt. Oder der Faden, der verbindet.“
Diese Sätze prägten Thalyra mehr als viele Predigten.
Während die anderen Novizen Rituale übten oder die Halle reinigten, verbrachte Thalyra Nächte damit, uralte Schriften zu restaurieren. Sie durfte das Archiv betreten – ein Raum, den viele erst als Geweihte zu sehen bekamen. Sie kopierte Traumdeutungen und Morwynas alte Hymnen - jene Gottheit, die Thalyra so sehr faszinierte.
Und immer wieder, wenn sie innehielt, war da Elyssas Blick. Streng, aber ruhig. Ohne Lob, ohne Tadel. Nur ein stummes Nicken.
So vergingen die Jahre. Und während andere Novizen kamen und gingen, Prüfungen ablegten oder scheiterten, blieb Thalyra. Wachsend. Schweigend. Wartend.
Nicht, weil sie langsam war. Sondern weil sie tief ging. Wie Wasser in einem alten Brunnen.
Es war im dritten Jahr ihrer Novizenzeit, als die Harmonie im Novizenflügel zu bröckeln begann. Nicht wegen Thalyra – sie hatte niemandem Anlass gegeben, sie zu fürchten oder zu hassen. Und doch war sie das Zentrum eines stillen Kreises aus Flüstern, Blicken und ausweichender Höflichkeit. Sie war zu ruhig, zu diszipliniert, zu genau. Und sie war anders.
Den offenen Bruch brachte eine junge Novizin namens Seris Talandra – ehrgeizig, klug, beliebt. Sie war die Tochter eines Archivars und stolz auf ihre Herkunft. In ihr brannte ein Feuer, das Thalyra nicht verstand. Seris war laut, präsent, stets bemüht, gesehen zu werden. Und sie konnte es nicht ertragen, nicht die Beste zu sein.
Der Auslöser war belanglos: ein Fehler im Kalligraphiewettstreit. Seris hatte eine Heilschrift Elidrians falsch kopiert, und Elyssa hatte es mit ruhiger Stimme angemerkt – ohne Tadel, ohne Strafe. Doch Thalyras Version war makellos gewesen. Zum vierten Mal in Folge. Am nächsten Tag kam es zur Konfrontation.
Im Übungsraum, während die anderen schweigend über Texte gebeugt saßen, blieb Seris vor Thalyras Tisch stehen. Die Stimme, die sie erhob, war nicht laut – aber scharf wie Drachenstahl.
„Was weiß eine Bastardin schon von göttlicher Ordnung?“
Stille. Der Raum erstarrte. Nur das Kratzen einer Feder verstummte zu spät.
Thalyra sah nicht auf. Sie beendete die Zeile, die sie schrieb, blies das Pergament trocken, legte die Feder zur Seite. Dann blickte sie auf. Ihre Augen waren ruhig – nicht verletzt, nicht empört. Nur ruhig.
„Mehr als du, offenbar.“
Es war nicht die Antwort, die Seris erwartet hatte. Kein Zorn. Kein Bekenntnis. Nur eine leere Spiegelung.
Die Spannung blieb. Seris wich zurück, biss die Zähne zusammen. Doch von diesem Tag an begann sich das Verhältnis im Flügel zu verändern. Einige mieden Thalyra offener. Andere wagten, ihr mit neuem Respekt zu begegnen – weil sie stehen geblieben war, als andere gefallen wären.
Am Abend jenes Tages stand Elyssa in der Tür zur Schreibstube. Sie sagte nur einen Satz: „Stille kann schneiden wie ein Messer, Thalyra. Du hast gut gezielt.“
Und dann war sie verschwunden, wie immer.
Nach dem Zwischenfall in der Schreibstube schien sich das Gleichgewicht unter den Novizen zunächst zu beruhigen. Doch jene Ruhe war trügerisch. Seris Talandra mied offene Konfrontation, doch sie arbeitete im Verborgenen – mit Worten, Blicken, Andeutungen. Und sie war nicht allein. Einige folgten ihr nicht aus Überzeugung, sondern weil sie spürten, dass Thalyra anders war – und weil es einfacher war, das Ungewöhnliche zu hinterfragen als es zu akzeptieren.
Thalyra wurde zur Zielscheibe für leises, aber konsequentes Ausgrenzen. Ihre Platzzuweisungen wurden vertauscht, Aufgaben „versehentlich“ doppelt vergeben oder gar unterschlagen. Tintenfässer verdarben über Nacht, Seiten aus ihren Aufzeichnungen verschwanden. Elyssa bemerkte es – aber wie eine gute Lehrmeisterin griff sie nicht sofort ein. Denn Prüfungen, so glaubte sie, seien nicht immer göttlich.
Die Herbstprüfung des achten Zyklus war ein traditioneller Bestandteil der Novizenzeit: eine umfassende Analyse eines theologischen Textes, kombiniert mit einem Praxisteil zur Auslegung und Übertragung in Alt-Valyriath. Diese Prüfung war weder öffentlich noch feierlich – aber für viele Novizen der erste Schritt zur Anerkennung durch den inneren Kreis der Vestalinnen.
Thalyra arbeitete gewissenhaft. Ihr Pergament war sorgfältig mit Randkommentaren versehen, ihre Übersetzungen klar, ihre Argumentation tief verankert im Codex Morwynas. Am Abend vor der Abgabe verschloss sie die Arbeit wie vorgeschrieben in ihrer Studierstube – unter Zeichen und mit einer Wachsschnur, wie es die Ordensregeln verlangten.
Am Morgen war sie verschwunden.
Die Kammer war unversehrt. Keine Spur des Siegels, kein Anzeichen von Zerstörung. Nur der Schreibtisch war leer. Die Tür war nicht aufgebrochen. Niemand hatte etwas gesehen.
Doch Seris hatte etwas vorbereitet: ein Ersatzmanuskript, versehen mit Fehlern – und mit Thalyra unterschrieben. Eine plumpe Fälschung, deren Handschrift zwar nahe kam, aber nicht perfekt war. Sie ließ es „finden“, angeblich in einem Abfallkorb nahe der Schreibstube.
Der Versuch war nicht genug, um Thalyra zu verurteilen – aber genug, um Zweifel zu säen. Ein Schatten fiel auf ihre Stimme. Ein Flüstern mehr. Und Seris ließ sich feiern, als hätte sie sich selbst ins rechte Licht gerückt, nicht andere ins Dunkel gestoßen.
Doch Elyssa schwieg nicht mehr.
Am darauffolgenden Zyklustag ließ sie alle Novizen in den Großen Korridor rufen. Kein festlicher Anlass – nur Holz, Stein, Stille. Sie sprach nicht viel. Nur dies:
„Ein Pergament kann entwendet werden. Doch nicht das, was die Hand daran geformt hat. Wer stiehlt, stiehlt nicht Worte – sondern sich selbst.“
Dann legte sie das Originalwerk Thalyras offen auf den Tisch. Jemand hatte es versteckt – in einem Altarschrein hinter der Statuette Elyndras, eingerollt und versiegelt mit einem fremden Zeichen. Eine Falle, fein konstruiert. Doch der Inhalt – die Tiefe der Gedanken, die Eleganz der Sprache – war unverkennbar.
Seris wurde nicht öffentlich beschuldigt. Doch am nächsten Morgen war ihr Lager leer. Ihr Name aus den Listen entfernt. Ihr Novizengewand zurückgelegt. Niemand sprach laut darüber.
Nur Elyssa sagte zu Thalyra, während sie gemeinsam den Pergamentrest glätteten: „Morwyna prüft nicht durch Strafe. Sondern durch Stille.“
Von diesem Tag an war Thalyra für viele nicht mehr nur die Schweigende. Sie war die, die geblieben war. Und das sagte alles.
Mit der Zeit veränderte sich das Gefüge im Tempel. Nicht durch große Worte oder Zeremonien – sondern durch Blicke, durch den Klang von Schritten, die sich langsamer näherten, wenn Thalyra sprach. Ihre Gegenwart wurde zur Gewohnheit, ihr Schweigen zu einem Gewicht, das die Luft veränderte.
Sie war noch immer Novizin, gebunden an Pflichten wie jeder andere: das Reinigen der Altäre, das Abschreiben alter Liturgien, das Ordnen von Opfergaben und das stundenlange Lauschen der Lehrreden. Doch wo andere müde wurden, blieb sie. Wo andere abschalteten, hörte sie tiefer.
Elyssa Daronys – längst zu ihrer stillen Fürsprecherin geworden – begann, ihr Aufgaben zu überlassen, die sonst nur fortgeschrittenen Geweihten anvertraut wurden: Die Vorbereitung von Reinigungsritualen vor Hochzeiten. Die Kontrolle über die Symbole an Morwynas Schrein. Das Anleiten von jüngeren Novizen bei der Schriftlehre in Valyriath.
Einige wunderten sich. Andere murrten. Doch niemand wagte es, sie in Frage zu stellen. Ihre Abschriften galten als „ruhiger als Stein“, ihre Liturgiestruktur als „unverrückbar“. Man begann, ihre Arbeit weiterzureichen – nicht weil man musste, sondern weil sie es besser machte. Und sie nahm nichts davon als Ehre. Nur als Aufgabe.
Es war Elyssa selbst, die ihr eines Tages einen in Leder gebundenen Kodex überreichte – alt, beschädigt, aber voller Lehren. Er war nicht für Novizen bestimmt. Nicht einmal für Geweihte, ohne ausdrückliche Erlaubnis.
„Du sollst ihn nicht behalten“, sagte sie, „aber du sollst ihn begreifen.“
Von da an durfte Thalyra regelmäßig die Krypta unter Morwynas Tempel betreten – einen Ort der Schatten, der Träume und des Vergessens. Dort führte sie Kerzenrituale durch, lauschte dem Tropfen des Grundwassers, legte Gebetsrollen in die steinernen Nischen für die Verstorbenen.
Und manchmal, wenn ein junges Kind im Tempel weinte oder ein Novize nicht schlafen konnte, holte man nicht die Ältesten. Man holte sie. Nicht, um zu erklären. Sondern um da zu sein.
So wurde Thalyra zur Gestalt der Schwelle – noch keine Geweihte, aber mehr als eine Novizin. Nicht offiziell erhoben, aber schon jetzt Trägerin eines Amtes, das keinen Titel brauchte: die Wächterin der Stille.
Neun Jahre waren vergangen, seit sie ihr Novizenweiß empfangen hatte. Jahre der Rituale, des Lernens, der Stille – und des Prüfens. Von anderen. Von sich selbst.
Die Weihe
Die meisten Novizen verweilten Jahrzehnte im Schatten des Tempels, bevor sie die Weihe empfingen. Doch für Thalyra war der Pfad nicht kürzer – nur gerader.
An einem frühen Morgen im Monat Morwyneth, kurz vor dem Drachentanz-Fest, wurde sie von zwei schweigenden Geweihten in ihre Kammer gerufen. Keine Worte, keine Erklärung. Nur ein stummes Nicken. Sie wusste, was es bedeutete.
Die Weihe wurde nicht angekündigt. Kein Fest, keine Prozession. Nur die uralte Zeremonie in der Krypta unter dem Tempel Morwynas – dort, wo nur Rauch, Stein und Schatten wohnten.
Dort stand Elyssa Daronys, in einem Gewand aus Mitternachtsblau, das sie nur an hohen Tagen trug. An ihrer Seite: die Hohepriesterin Vaella persönlich – eine seltene Ehre, eine stille Anerkennung.
Thalyra kniete nieder, ihre Stirn auf dem kalten Boden. Die Worte, die gesprochen wurden, waren alt und klar.
„Thalyra Vexarys – Kind des Hauses Vexarys, Tochter der Asche und des Lichts. Du bist geprüft worden durch Schweigen, durch Schatten, durch Ordnung. Willst du der Göttin Morwyna dienen – in Demut, in Treue, in innerer Reinheit?“
Sie antwortete ruhig, wie aus der Tiefe einer Quelle:
„Ich will – im Licht der Nacht, im Schweigen der Tiefe, im Flüstern des Wahren.“
Ein Fläschchen mit Wasser aus dem Quellbecken wurde über ihre Stirn gegossen. Dann legte Elyssa ihr ein Amulett um – silbermatt, kreisförmig, mit einer feinen Mondsichel darauf. Kein Prunk. Kein Stein. Nur das Zeichen der Nacht. Dann folgte der letzte Teil: der Ruf in die Dunkelheit – ein uraltes Ritual nur für Geweihte Morwynas. Thalyra trat an den steinernen Schrein, entzündete die schwarze Flamme und sprach den alten Eid:
„Ich bin das Auge, das schweigt.
- Ich bin das Herz, das hört.*
- Ich bin die Flamme, die nicht brennt.*
- Ich bin Morwynas Wille – wandelnd im Schatten.“*
Die Flamme flackerte – nicht durch Luft, sondern durch etwas anderes. Etwas, das nur jene spürten, die unter Morwynas Schutz standen.
Als sie sich umwandte, begegnete ihr Elyssas Blick zum letzten Mal mit einem Hauch von Stolz. Kein Wort fiel. Nur ein Nicken.
Thalyra war nun Naerion – Geweihte der Nacht.
Und der Tempel schien, für einen Herzschlag lang, den Atem anzuhalten.
Die ersten Jahre nach ihrer Weihe waren still – und doch anders als zuvor. Thalyra war nun Naerion, Geweihte Morwynas, Trägerin eines Amuletts, das nicht zur Zierde, sondern zur Mahnung diente. Viele, die sie vorher übergangen hatten, grüßten sie nun mit gesenktem Blick. Die Jüngeren verbeugten sich vor ihr. Die Älteren beobachteten, wie sie sich führen ließ – oder ob sie führte.
Sie erhielt eigene Aufgaben: Sie begleitete die Reinigungsrituale von Neugeweihten, beaufsichtigte das Erlernen der Alt-Valyriath-Segensformeln und leitete bald selbst nächtliche Fürbittzeremonien in der Krypta. Ihr Ton blieb leise, ihr Auftreten zurückhaltend. Doch wenn sie sprach, geschah es selten – und nie umsonst.
Der Tempel Morwynas war ihr Zuhause geworden. Nicht nur architektonisch, sondern innerlich. Sie kannte jede Ritze im Stein, jede Kuhle im Mosaikboden, jede Schwankung in der Temperatur der Schatten. Der Ort atmete mit ihr – oder sie mit ihm.
Immer häufiger begannen andere Priesterinnen, ihre Novizen Thalyra anzuvertrauen. Nicht, weil sie sanft war – sondern weil sie genau war. Ihre Prüfungsfragen waren gefürchtet: kryptisch, tief, manchmal fast grausam ehrlich. Doch wer sie bestand, hatte nicht nur gelernt – sondern sich erkannt.
Einige Novizen verehrten sie. Andere mieden sie. Und manche hassten sie still. Doch alle wussten: Wenn es um Morwyna ging, war ihre Stimme Gesetz.
Zugleich begann sie, sich mit Texten jenseits der bekannten Liturgien zu beschäftigen – Fragmenten aus dem sogenannten Schattenzyklus, einem kaum erforschten Teil der alten Lehren, in dem Morwyna nicht nur als Göttin der Träume, sondern als Spiegel des Ichs erschien. Elyssa hatte ihr dazu einst nur gesagt: „Diese Zeilen sind nicht für jede Zeit gedacht. Lies sie, wenn du bereit bist, dich selbst zu verlieren.“
Und Thalyra las.
Stiller Tod
Elyssa Daronys starb im tiefen Winter. Nicht dramatisch. Nicht öffentlich. Sie starb, wie sie gelebt hatte: leise, an einem Abend, als der Wind durch die Krypten zog und der Tempel in schwarze Tücher gehüllt war. Ihre Atemzüge hatten sich seit Wochen verlangsamt, ihr Blick war milder geworden. Einige sagten, sie habe geahnt, dass ihre Zeit kam. Andere glaubten, sie habe gewählt, wann sie gehen würde.
Thalyra saß in jener Nacht am Fußende ihres Lagers. Nicht als Priesterin. Nicht als Schülerin. Nur als Gegenwart. Elyssa hatte kaum noch gesprochen. Aber kurz vor der letzten Stunde hatte sie noch einmal Thalyras Hand genommen – knochig, fleckig, warm.
„Die Tiefe ist still. Geh weiter, Kind der Flamme.“
Das waren ihre letzten Worte.
Die Nachricht von Elyssas Tod wurde mit einem schwarzen Schleier über der Tür des Scriptoriums verkündet – kein Trommelschlag, kein Glockenruf. Nur der Geruch von kalter Asche und ein verschlossener Raum.
Die Beisetzung fand drei Tage später statt, in der großen Schattenhalle des Tempels – dort, wo nur hochgeweihte Persönlichkeiten ruhten. Die Zeremonie wurde von Hohepriesterin Vaella Valysar selbst geleitet, begleitet von drei Vestalinnen der Nacht und einem Priester des Todesgottes Valyndor.
Thalyra erhielt eine besondere Aufgabe – keine rituelle Leitung, aber eine Rolle, die nur wenigen anvertraut wurde: das Niederlegen des Abschiedsbuches. Es war Brauch, dass jener, der einem Verstorbenen am nächsten stand, die letzte Seite eines Schriftbandes versiegelte – mit Wort, Wachs und Atem. Sie tat es ohne zu zittern.
Auf das letzte Blatt schrieb sie auf Valyriath:
Der Geist ruht in den Schatten. In den Schwingen der Götter geborgen.
Dann legte sie die Schriftrolle auf die Brust der Verstorbenen. Kein Wort mehr. Nur der Druck ihrer Hand, als der Sarkophag geschlossen wurde.
Hohepriesterin Vaella hatte sie während der ganzen Zeremonie beobachtet. Nicht wertend, nicht prüfend. Nur wachsam. Später, beim Rückweg durch den Säulengang, war es die Hohepriesterin selbst, die an ihrer Seite ging. Wortlos. Die Hände gefaltet, den Blick geradeaus.
In den folgenden Wochen wurde Thalyra öfter zur Besprechung gerufen. Erst zur Abstimmung der Abschriften, dann zur Vorbereitung der Drachennacht-Liturgie. Schließlich auch zu theologischen Beratungen.
Nicht offiziell. Nicht mit Titel.
Aber der Schatten, in dem sie stand, war nun ein anderer.
Und er war nicht mehr Elyssas.
Aufnahme zur Vestalin
Die Jahre vergingen wie Wasser unter Mondlicht – kaum spürbar und doch stetig. Thalyra diente in Stille, in Disziplin, in ihrer unerschütterlichen Hingabe an Morwyna. Ihre Aufgaben wuchsen, ihre Stellung im Tempel ebenso. Und doch suchte sie nie das Zentrum – nur den Dienst.
Sie führte Rituale, bereitete Segnungen vor, begleitete Novizen durch Zeiten der Prüfung und Verlust. Ihre Stimme war zur Gewohnheit geworden im Tempel, ihre Handschrift zur Vorlage in der Schreibstube, ihre Präsenz ein stiller Halt inmitten des Wandels.
Mit 55 Jahren, fünfundzwanzig Jahre nach ihrer Weihe zur Geweihten, wurde sie in den innersten Tempel gerufen – zu einer Versammlung der Hohepriesterin, drei Vestalinnen und den Bewahrern der heiligen Ordnung.
Sie wusste nicht, warum. Niemand hatte sie vorbereitet.
Doch als sie den Raum betrat, war es Hohepriesterin Vaella, die sprach:
„Thalyra Vexarys, Tochter der Schatten, Trägerin des stillen Feuers –
du bist erwählt, in den Zyklus des Lebens zu treten.
Von diesem Tage an sollst du Vestalin sein –
Hüterin der Übergänge, Sprecherin des Segens, Begleiterin des letzten Atems.“
Es war eine Wahl, die viele überraschte. Nicht, weil sie ihrer nicht würdig war – sondern weil sie jung war. Die jüngste Vestalin, die der Tempel seit drei Jahrhunderten gekannt hatte. Und sie war Morwyna geweiht – der Göttin der Dunkelheit, nicht des Lebens. Doch vielleicht lag gerade darin das Gleichgewicht: Die Hand der Nacht, die den Übergang ins Licht führt.
Ihr neues Gewand war weiß – schlicht, ehrwürdig, mit feinen Stickereien der Göttinnen Vayandria, Elyndra und Verdantia am Saum. Ein Symbolband um die Stirn trug das Zeichen des sich drehenden Lebensrades – Anfang und Ende in einem Kreis.
Von da an segnete sie Geburten. Flüsterte Gebete bei Hochzeiten. Saß an den Betten Sterbender und sprach mit jener Stimme, die weder beruhigte noch beunruhigte – sondern einfach da war.
Doch auch Morwyna blieb an ihrer Seite. In den Träumen. In den Nächten, in denen kein Gebet gesprochen wurde, sondern nur gehört.
Sie war nun Vestalin.
Nicht durch Ehrgeiz. Nicht durch Herkunft. Sondern weil das Leben selbst sie gerufen hatte.
Die Novizin
Es war im achten Jahr ihres Amtes als Vestalin, als ihr zum ersten Mal eine Novizin offiziell zugewiesen wurde. Nicht zum Üben, nicht zur Beobachtung – sondern zur persönlichen Anleitung. Ihr Name war Nylaria, kaum 22 Sommer alt, mit Augen so hell wie Frühlingswasser und einem Temperament, das dem Wind Zephyrias glich: launisch, stürmisch, lebendig.
Sie war klug – zu klug. Ihre Zunge war schneller als ihre Hände, ihre Gedanken sprangen oft weiter als die Liturgie es erlaubte. Doch sie hatte ein feines Gespür für Übergänge, für Brüche im Rhythmus des Lebens. Ihre Anziehung zur Priesterschaft war echt, ihr Ernst wuchs – doch sie suchte Grenzen, um sie zu verstehen.
Niemand im inneren Zirkel wollte sie übernehmen. Sie war zu laut, zu ungeordnet. Also übergab man sie Thalyra – in der Hoffnung, dass die Vestalin der Stille sie zu zügeln wusste. Einige flüsterten, es sei eine Strafe. Andere glaubten, man wolle sehen, ob Thalyra lehren konnte – oder nur dienen.
Thalyra sagte nichts. Sie nahm Nylaria auf, wie man einen Stein aus dem Fluss hebt: ruhig, prüfend, ohne Erwartung.
Die ersten Wochen waren eine Prüfung für beide. Nylaria hinterfragte vieles – nicht aus Respektlosigkeit, sondern aus echtem Wunsch, zu begreifen. Sie stellte Fragen zur Symbolik der Gaben, zur Sprache der Rituale, zu den Übergangsformeln im Codex. Thalyra beantwortete nicht jede. Manchmal reichte sie ihr ein leeres Blatt. Manchmal ließ sie sie schweigen.
Doch mit der Zeit wuchs etwas. Nylaria begann, leise zu sprechen. Lernte, ihre Unruhe in Federstrichen auszudrücken. Ihre Handschrift wurde geordnet. Ihre Gesten präzise. Und manchmal – selten, aber ehrlich – lachte sie, wenn sie mit Thalyra alte Schriftrollen sortierte.
Einmal fragte sie:
„Warum gerade ich, Vestalin? Mein Herz rauscht wie Sturm. Eures ist still wie Stein.“
Thalyra hatte geantwortet:
„Weil dein Herz den Sturm kennt – aber noch nicht weiß, wann man segeln muss und wann man ankern sollte.“
Von da an nannte Nylaria sie nie wieder nur „Vestalin“. Sie sagte „Meisterin“. Nicht, weil es vorgeschrieben war. Sondern weil es stimmte.
Thalyra hatte ihre erste Schülerin gefunden.
Und vielleicht – so flüsterte Morwyna in einer jener Nächte, die kein Mondlicht trugen – auch ihre spätere Nachfolgerin.
Die Katastrophe
Am Tag des Valeryon-Visenya-Festes stand Dohaeragon im Glanz uralter Größe. Es war das 3500. Jahr valyrianthischer Geschichte – ein Jubiläum, wie es nur einmal in einem Drachenschattenleben geschieht. Wochen zuvor waren Pilger und Würdenträger eingetroffen, um an Zeremonien, Festen und rituellen Umzügen teilzunehmen. Auch Thalyra Vexarys, mittlerweile hoch angesehene Vestalin Morwynas, war unter den geistlichen Repräsentanten – begleitet von ihrer Schülerin Nylaria, die bei diesem bedeutenden Ereignis erstmals öffentlich an ihrer Seite stand.
Die Stadt war überfüllt, in den Tempelhöfen erklangen Lieder, Kinder trugen goldene Drachenmasken, und sogar die Elendsviertel waren mit Seidenfahnen geschmückt. Für Thalyra war dieser Tag doppelt bedeutungsvoll – ein Tag des Übergangs.
Thalyra leitete an diesem Festtag gemeinsam mit ihrer Schülerin Nylaria ein seltenes, aber bedeutungsvolles Ritual im oberen Schrein Morwynas: die Segnung der Schattenkinder – eine symbolische Zeremonie, die den Übergang vom alten ins neue Jahr ehrte, indem sie die Dunkelheit nicht verfluchte, sondern ehrte. Morwyna wurde angerufen, die Träume des kommenden Jahres zu wahren – und ihre Flamme mit der Hoffnung Vayandrias zu verbinden.
Die Halle war voll. Gläubige, Würdenträger, Geweihte – sie alle lauschten der sanften Stimme Thalyras, als sie das alte Gebet sprach:
„Wie die Dunkelheit den Tag gebiert,
wie die Wurzel den Baum trägt,
so möge die Tiefe uns halten,
wenn Licht uns verlässt.“
Nylaria reichte ihr das silberne Räucherschiff. Die Halle war erfüllt vom Duft schwarzer Myrrhe, die Flammen auf dem Altar glommen in blauen Tönen – Zeichen Morwynas Nähe.
Doch gegen Abend verdunkelte sich der Himmel. Wind zog auf, Regen fiel. Das störte die Feiern kaum. Im Palast begann gerade der prunkvolle Ball, und in den Tempeln flackerten hunderte Feuerschalen. Das Valeryon-Visenya-Fest war unantastbar – oder so glaubten sie.
Dann, kurz vor Mitternacht, bebte die Erde.
Ein Stoß, tief und vernichtend. In den unteren Vierteln stürzten Häuser ein, Statuen zersprangen, Säulen im Palast barsten. Feuer brach aus – ausgelöst von den hunderten offenen Flammen. Thalyra blieb nur einen Herzschlag lang stehen. Dann packte sie Nylaria am Arm und zog sie zur Seite, kurz bevor ein Brocken der Decke herabstürzte. Rauch quoll durch das Hauptportal. Schreie füllten die Luft. Die goldenen Fahnen begannen zu brennen.
„Lauf, Nylaria. Jetzt.“
„Was ist das?!“
„Keine Prüfung. Ein Gericht.“
Gemeinsam flohen sie mit anderen Geweihten in den äußeren Hof, während hinter ihnen Schreie laut wurden.
Als sich der Boden beruhigte, folgte Stille – nur durchbrochen vom fernen Tosen der Brandherde. Thalyra organisierte die Erstversorgung am Tempelvorplatz. Verwundete wurden auf Tücher gelegt, Novizen brachten Wasser. Es war keine Zeit für Gebete.
Wenig später sah man, wie sich das Meer zurückzog. Thalyra kannte das Zeichen. Sie sprach kein Wort, doch ihr Blick sagte alles. Nylaria stand an ihrer Seite, zitternd.
Dann kam die Flut.
Eine fünf Meter hohe Welle traf den Hafen. Man hörte die Schiffe krachen, Holz splitterte, Feuer wurde gelöscht – oder verschlungen. Menschen schrien, wurden fortgerissen. Die Asche der Altäre mischte sich mit Meerwasser.
Als der Rückfluss einsetzte, kehrte eine gespenstische Ruhe ein. Die Silberflotte hatte sich seewärts gerettet – der Palast stand noch. Valysar Rhaenelyra ließ durch das Silberheer die Rückkehr organisieren. Helfen. Bergen. Beten.
Und dann – mitten in der Evakuierung – erschien am höchsten Berg über der Stadt ein rötliches Glimmen. Thalyra sah es. Und sie wusste, was es bedeutete. Lava. Feuer unter der Erde. Der Drache unter der Stadt war erwacht.
Die Hohepriesterin Vaella hatte längst das Schiff der Herrscherin betreten. Thalyra blieb. Sie organisierte, führte, wies an. Sie und Nylaria brachten eine verletzte Vestalin auf eines der späteren Evakuierungsschiffe – das letzte, das in Richtung Silberflotte auslief.
Als die pechschwarze Aschewolke brach, war die Stadt bereits im Todesgriff. Thalyra stand an Deck, den Blick auf den Palast gerichtet – und auf das Ritualhaus, in dem ihr Leben begonnen hatte. Die Welle aus Tod und Schwefel verschlang Dohaeragon. Der Himmel selbst wurde schwarz. Stille fiel. Endgültig.
Sie überlebte.
Nicht, weil sie es wollte.
Sondern weil sie gebraucht wurde.
Die Flotte hatte sich in sicherer Entfernung versammelt, während die Ruinen von Dohaeragon hinter ihr in Asche versanken. Das Meer war trügerisch ruhig. Der Himmel schwarz. Nur das Heulen des Windes erinnerte noch an die Gewalt der vergangenen Tage.
Thalyra befand sich an Bord der Aelora, einem mittleren Schiff unter dem Banner des Tempels. Sie war bei Verletzten, bei Novizen, bei jenen, die nichts mehr trugen außer Staub und Namen. Neben ihr: Nylaria, erschöpft, aber unversehrt. Gemeinsam bewahrten sie die wenigen heiligen Bücher, die aus den Flammen gerettet worden waren – darunter eine fragmentierte Abschrift aus Morwynas Traumbuch.
Die Tage auf See waren ein endloser Strom aus Schweigen und Kälte. Keine Liturgien, keine Lieder – nur leises Atmen, abgelöschte Kerzen und salzverkrustete Gebete. Thalyra sprach kaum, aber sie war da. Und das genügte vielen.
Am sechsten Tag nach dem Untergang von Dohaeragon verdichteten sich die Wolken erneut. Wind peitschte die Wellen, als das königliche Schiff – die Silberne Mondin, Flaggschiff von Prinzessin Rhaella und der Hohepriesterin Vaella – in Sicht kam.
Ein stolzer Anblick – doch das Schiff war beschädigt, tief liegend, der Rumpf halb überflutet. Es kämpfte gegen den Sturm, von Steuerbord gedrängt, die Mannschaft erschöpft. Noch bevor ein Ausweichmanöver möglich war, ertönte ein donnerndes Krachen. Das Schiff lief auf ein verborgenes Riff auf.
Auf der Aelora sah man, wie Matrosen schrien. Man hörte den Ruf:
“Wir laufen auf!”
Dann Stille. Und dann: der Silberne Mond kenterte.
Thalyra stand am Bug der Aelora, die Hand auf dem Relingholz, das Amulett Morwynas in der Faust. Neben ihr rang ein junger Geweihter nach Atem, als er erkannte, wer an Bord des sinkenden Schiffs gewesen war. Thalyra sprach leise – nicht zu ihm, sondern zur Tiefe:
“Valyndor… du hast genommen, was rein war.”
Sie beobachtete, wie Prinz Jaeherys sich mit letzter Kraft durch die Wellen kämpfte, den leblosen Körper Prinzessin Rhaellas an sich klammernd. Von der Silberner Drache flogen Seile – erst erfolglos, dann rettend. Und über allem: der Schrei der Valysar Rhaenelyra, der sich wie ein Bann durch Sturm und Tod brach.
Kein Götterurteil hätte deutlicher sein können.
Vaella Valysar, die Hohepriesterin, verschwand mit dem Schiff. Ihr Körper wurde nie geborgen.
Am Abend hüllte sich die Flotte in Dunkelheit. Kein Licht brannte. Nur die Asche regnete weiter – vermischt mit Tränen, Salz und Glaube.
Thalyra saß in ihrer Kajüte. In ihren Händen: ein Tuch mit Asche aus Dohaeragon, geborgen von Nylaria. Sie faltete es, als wäre es eine Reliquie.
“Der Orden ist gefallen, Nylaria. Aber der Glaube? Der ist nie aus Stein gemacht.”
Sie sprach kaum. Doch die anderen Geweihten begannen, sie aufzusuchen. Nicht um Rat. Nur um in ihrer Nähe zu sein. Als wüsste sie, wo sie waren – obwohl niemand wusste, wohin sie fuhren.
Die Tage wurden Wochen. Die Vorräte knapp. Viele starben – an Kälte, an Fieber, an Hoffnungslosigkeit. Doch Thalyra stand bei den Sterbenden. Flüsterte Gebete, wenn niemand sonst Worte fand. Sie verbrannte nicht die Toten – sie versiegelte sie mit Asche.
Ankunft in Vinyamar
Nach Monaten auf See erreichten sie schließlich das ferne Vinyamar – zerschlagen, aber nicht gebrochen. Es war kein Ziel gewesen. Nur ein Ufer. Aber für viele wurde es ein Anfang.
Und Thalyra?
Sie trat nicht sofort vor. Sie baute keine Altäre. Sie hielt keine Reden.
Sie grub mit den Händen. Pflanzte eine Schale Asche in die Erde. Legte das gerettete Buch in einen Leinentuchschrein. Und sprach zu Nylaria:
„Dies ist kein Tempel. Noch nicht. Aber es ist Boden. Und wir atmen. Morwyna schweigt. Aber sie schweigt nicht gegen uns.“
Vinyamar war kein Ort der Ankunft – sondern des Überlebens. Die ersten Monde nach der Katastrophe von Dohaeragon standen im Zeichen der Notwendigkeit: Zelte statt Altäre, Feuerstellen statt Weihrauch. Die große Ordnung der Zwölf war gefallen, ihre Gesandten verteilt, erschüttert, verstummt.
Auch der Orden der Drachengötter war nicht mehr, was er einst gewesen war. Von einem Gefüge aus Priesterschaft, Lehrämtern und geheiligten Rängen war wenig geblieben – nur Menschen, die wussten, wie man segnet, stillt, lauscht. Viele hatten ihre Gewänder verloren, manche auch ihren Glauben. Doch sie kamen zusammen – in Zelten, umgeben von Schutt, Sturm und Hoffnung.
Und in ihrer Mitte stand Thalyra.
Nicht mit Titel, nicht mit Krone. Sie sprach nicht von Amtsnachfolge. Doch sie war die Letzte, die Vaella gedient hatte, die Erste, die sprach, als niemand wusste, was man sagen durfte.
Sie organisierte – ohne zu befehlen.
Sie segnete – ohne Rituale zu erfinden.
Sie erinnerte – ohne zu verklären.
Es war sie, die dafür sorgte, dass Novizen in Gruppen blieben, dass die alten Gebete neu geschrieben wurden, dass man sich zum Mondzyklus versammelte, um die Götter zu ehren – auch ohne Hallen, Altäre, Glocken.
Die Valysar erhob keine neue Hohepriesterin. Vielleicht aus Trauer. Vielleicht aus Vorsicht. Vielleicht aus Angst, es könnte falsch sein, jetzt schon neu zu thronen.
Und so wurde Thalyra zur inoffiziellen Stimme des Ordens – von niemandem ernannt, von allen gefragt. Wenn Entscheidungen zu treffen waren, blickte man zu ihr. Wenn eine Geburt zu segnen war, rief man sie. Wenn ein Kind weinte und nicht aufhörte, holte man sie. Nicht, weil sie Macht trug – sondern weil sie blieb.
Nylaria schlief neben ihr, wie viele andere. Kein Zelt war größer, kein Lager besser.
Die Vestalin lebte wie eine Novizin – und wurde doch zur stillen Mitte eines zerbrochenen Kreises.
So vergingen die Monde.
Ohne Tempel. Ohne Schriftrollen. Ohne Weihwasser.
Nur mit Erinnerung, Handarbeit – und der unerschütterlichen Stimme jener, die einst in den Schatten geschworen hatte: „Ich bin die Flamme, die nicht brennt.“
Die Valysar ist tot. Lang lebe die Valysar
Es begann mit Husten. Dann Fieber. Dann Leichen.
Die Seuche in Vinyamar kam lautlos, durch Regenwasser, Ratten oder vielleicht durch die Asche, die sie aus Dohaeragon mitgebracht hatten. Innerhalb weniger Wochen verwandelte sich das Lager der Valyrianthi in einen Ort des Sterbens. Die Heiler waren überfordert, die Vorräte knapp, die Luft schwer von Angst.
Thalyra blieb. Während viele flohen oder sich einschlossen, bewegte sie sich durch die Reihen der Zelte. Sie sprach Gebete. Segnete Stirnen, ohne sie zu berühren. Sie begleitete Sterbende, ohne je zu weinen. Nur Nylaria sah ihr an, wie sehr es sie innerlich zerriss.
Als sich die Reihen der Lebenden lichteten, traf Valysar Rhaenelyra eine Entscheidung.
„Wir müssen fort. Die Götter wollen uns hier nicht.“
Sie ordnete die Evakuierung an – Schiffe wurden bereitgemacht, Vorräte gesammelt, der Drachenkodex in Truhen verstaut. Doch nicht jeder war einverstanden.
Vor allem ihre jüngste Schwester, Prinzessin Rhaenyra, widersprach offen:
„Du gibst auf. Mutter hätte nie Dohaeragon verlassen. Und du willst Vinyamar aufgeben? Was bleibt uns dann noch?“
Der Streit wurde hitzig. Worte fielen, die man nicht zurückholen konnte. Schließlich ließ die Valysar ihre Schwester unter Hausarrest stellen – zum Schutz, wie sie sagte. Doch in der Nacht geschah das Unvorstellbare: Rhaenyra floh.
Sie stahl das königliche Flaggschiff, das letzte vollständig seetüchtige Schiff der Flotte, und verschwand mit einer Handvoll Getreuer in Richtung unbekannter Küsten. Am Morgen war nur noch das Flattern der zerbrochenen Lagerfahne an ihrem Steg zu sehen.
Thalyra stand schweigend neben der Valysar, als diese die Nachricht erhielt. Die Herrscherin sagte nichts. Aber ihre Finger umklammerten die Drachenkrone wie ein letzter Anker.
Die Flotte der Flüchtigen, angeführt von der Aelora, verließ Vinyamar wenige Tage später. An Bord: Kranke, Kinder, Priester, und Thalyra – nicht als Anführerin, sondern als Wächterin. Sie diente weiter, schweigend, mit Blick auf die See.
Die Valysar wurde krank.
Nicht sofort. Doch Mond für Mond wurde ihr Blick trüber, ihre Stimme leiser. Kein Heiler half. Kein Gebet brachte Linderung. Und als der Wind sich drehte und der Stern der Dämmerung über dem Wasser stand, rief sie Thalyra zu sich.
„Die Valyrianthi werden nicht vergehen – nicht, solange du die Flamme trägst. In Rhaellas Namen wirst du einen Hort des Glaubens pflanzen, dort, wo Erde und Schweigen sich begegnen. Baue keinen Palast, keine goldene Linie – baue einen Ort, den nur die Götter zuerst sehen. Zünde die Flamme dort, wo kein Auge wacht – und die Götter selbst werden sie sehen.”
Dann schwieg sie. Und starb noch in derselben Nacht.
Am Morgen sprach Thalyra den alten Segensspruch Morwynas: Möge dein Geist mit den Göttern fliegen.
Die Krone war übergeben. Die Valysar gestorben. Die Flamme… flackerte. Aber sie brannte noch.
Die Tempelhüterin von Thur'Valarys
Thalyra stand nicht auf dem Deck der Aelora, als Rhaella III. sich in einer knappen, würdevollen Zeremonie zur neuen Valysar erklären ließ. Sie sprach nicht gegen das Blut, nicht gegen den Thron – aber sie wählte einen anderen Weg.
Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Geweihten, einer Handvoll Novizen, drei Truhen voller geretteter Schriften und der Asche der verlorenen Vestalinnen, bestieg sie ein schlichtes, aber seetüchtiges Schiff. Es trug den Namen Silar’loren – Mond der Stille. Ein passender Name, sagte man, für jene, die das Licht der Nacht zu hüten verstanden.
Während Prinzessin Rhaella III. mit der Aelora nach Süden aufbrach – zurück nach Dohaeragon, um vergessene Schätze und Schriften zu bergen – wandte sich Thalyras Schiff nach Westen. Dorthin, wo die Karten eine neue Insel zeigten und nur das Glaubensfeuer wies.
Die Reise war lang. Die Nächte kalt. Die See unruhig. Doch nie fielen Gebete aus. Keine Liturgie wurde unterbrochen. Kein Schweigen blieb leer.
Jede Flamme an Bord wurde zu einer Verheißung.
Thalyra sprach nicht von einem Tempel. Nicht von Mauern.
Nur von einem Ort, an dem die Zwölf nicht angebetet, sondern verstanden würden.
Und die, die mit ihr segelten, glaubten daran.
Die Reise führte sie entlang der südlichen Küsten des alten Elfenkontinents. Das Schiff Silar’loren schnitt durch das dunkle Wasser wie eine Klinge durch Seide. Kein Wind sang, nur das leise Knarren der Planken und das Rauschen der Wellen begleiteten sie.
Als sie die südliche Strömung durchbrachen, zeichnete sich ein neuer Schatten am Horizont ab – eine Insel, einsam und erhaben. Auf den Karten hieß sie die Insel der Hüterin. Und dort, im goldenen Abendlicht, sahen sie ein einzelnes Anwesen: schlicht, würdevoll, umgeben von stillen Wäldern.
Elarya Velaryth lebte dort – jene, die man nun Stimme der Flamme nannte, Gesandte der Valysar Rhaella, Bewahrerin des Wortes. Das Schiff glitt lautlos an der Küste vorbei.
Thalyra trat an den Bug, legte die rechte Hand über ihr Herz und hob die Linke, während die Novizen hinter ihr in stillem Gebet verharrten.
„Na velar erin lor – möge dein Feuer die Nacht wärmen, Schwester Elarya.“
Dann segelte die Silar’loren weiter – dem Ziel entgegen, das nie Palast sein sollte, sondern Ort der Ordnung.
Schon bald ragten die ersten Umrisse der großen Insel vor ihnen auf. Thur’Valarys. Nebel lag über der See, und doch wussten sie, dass sie angekommen waren. Elaryas Aufzeichnungen hatten berichtet, dass im Osten der Insel die Ruinen eines alten Tempels lagen – vergessen, von Efeu bedeckt, aber unberührt vom Zorn der Götter.
Dorthin steuerten sie. Zwischen schwarzen Klippen und dichten Wäldern lag eine natürliche Bucht, geschützt und würdig. Die Segel wurden eingerollt, das Schiff warf den Anker. Kein Wort fiel. Nur Thalyra sprach, leise, während sie als Erste an Land trat:
„Die Götter schweigen nicht. Sie flüstern. Und wir sind gekommen, um zu lauschen.“
Wenn nicht anders angegeben, wurden die Bilder per KI generiert.