Der Hexenturm von Agriá Pelóri

Archiv der Stadt Theonopolis – Eintrag Nr. 47

Wie an vielen stillen Nachmittagen durchschritt der Archivar von Theonopolis die hohen, staubigen Regalreihen des Stadtarchivs. Der schwache Schein einer Öllampe tanzte über Lederbände und Pergamentrollen, während er die handgeschriebenen Einträge prüfte. Zwischen zwei dicken Chroniken rutschte ihm ein dünnes, vergilbtes Bündel Pergament entgegen. Die Schnur, die es zusammenhielt, war spröde, und eine dicke Staubschicht ließ vermuten, dass seit Jahren niemand diesen Bericht in Händen gehalten hatte. Als er die Seiten entfaltete, offenbarte sich ihm Eintrag Nr. 47: ein Bericht über ein altes, bis heute nicht gänzlich erklärtes Ereignis aus den frühen Tagen der Stadt.

Betreff: Der sogenannte „Hexenturm“ von Agriá Pelóri

Nach der Ankunft der Geflüchteten aus Arcadiapolis im Jahre 1100 n. d. G. wurde zunächst nicht mit dem Bau der Stadt Theonopolis begonnen, sondern mit der Errichtung des Vordorfes Agriá Pelóri. Dort entstanden provisorische Unterkünfte, Werkstätten und ein einfacher Wachturm aus Stein, der dem Schutz der Siedlung vor möglichen Überfällen diente. Einige Monate später, als die Arbeiten am Stadtgebiet von Theonopolis bereits begonnen hatten, weihten die Kleriker ihre neue Kirche. Zu diesem Anlass fand ein öffentlicher Gottesdienst mit anschließender Taufe statt, an dem ein Großteil der Bevölkerung teilnahm. Während dieser Zeremonie betrat eine bislang unbekannte Frau den Kirchgarten, in dem die Taufe vollzogen wurde. Zeitzeugen beschrieben ihr Äußeres als ungepflegt, ihre Kleidung als abgetragen. Sie gab an, die Taufe empfangen zu wollen, und der diensthabende Priester willigte ein.

Nach Beginn der Zeremonie verfärbte sich das Taufwasser unheilvoll, und der Priester brach gelähmt zusammen. Später wurde festgestellt, dass er vergiftet worden war. Die Frau, inzwischen völlig durchnässt, rief wirre Worte, in denen mehrfach „Kelten“ und „altes Blut“ zu hören gewesen sein soll, und leistete vier Wachen gleichzeitig erbitterten Widerstand, ehe sie überwältigt werden konnte. Da die Verließe von Theonopolis zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggestellt waren, wurde sie in den Wachturm von Agriá Pelóri verbracht. Noch am selben Tag ordnete die Kirchenleitung die Errichtung eines Scheiterhaufens in unmittelbarer Nähe des Turmes an.
In der Nacht darauf kam es zu einem kläglichen Ausbruchsversuch, der jedoch von den Wachen vereitelt wurde. Aus Sicherheitsgründen brachte man die Gefangene daraufhin in die Kaserne von Theonopolis. Dort jedoch verschwand sie kurze Zeit später spurlos, ohne dass ein Einbruch oder eine gewaltsame Befreiung festgestellt werden konnte.

Seither wird das Bauwerk in Agriá Pelóri im Volksmund „Hexenturm“ genannt. Während offizielle Berichte diesen Namen lediglich als örtliche Bezeichnung vermerken, hält sich in der Bevölkerung bis heute der Glaube, dass der Turm mit einem Fluch belegt sei. Mehrere Bewohner von Agriá Pelóri wollen in stürmischen Nächten ein Licht in der Turmspitze gesehen und eine fremde Frauenstimme gehört haben.

Quelle: Stadtarchiv Theonopolis, Sammlung „Besondere Vorkommnisse“, Bd. II, S. 113–115

12 „Gefällt mir“