𝕯𝖎𝖊 𝕶𝖆𝖕𝖊𝖑𝖑𝖊 𝖉𝖊𝖘 𝕳𝖆𝖑𝖇𝖍𝖊𝖎𝖑𝖎𝖌𝖊𝖓
Am Ende eines überwucherten, bloß ausgetretenen Pfades finden sich unter den Schatten der Bäume die Reste des einzigen heiligen Bodens weit und breit. Es sind steinerne Säulen und Bögen, die sich ein paar wenige Meter in die Luft erheben. Zu ihren Füßen ruhen ihre abgebrochenen Kronen und sämtlicher, moosüberwucherter Schutt, der von diesem Haus übrig geblieben war.
Es war ein christliches Gotteshaus gewesen, das von Hand der Sterblichen zerstört worden ist. Die Steine haben zeit ihres Lebens viel mitbekommen und wahren die Geheimnisse, die in Messe und Beichte offenbart wurden, blind unter den Schichten verschiedener alter Moose und Flechten. Die stolzen romanischen Bögen wurden gebrochen von der Zeit und liegen nun besiegt darnieder.
Obgleich sie lange her ist, obgleich sie mehr eine der Menschen ist, ist die Geschichte der Kapelle den ansässigen Dörflern wie auch Einsiedlern aller Rassen bekannt. Denn sie ist eng verwoben mit einem Mann, der heilig, aber auch doch nicht heilig war. Ein Halbheiliger, wie die benachbarten Seelen – zugleich Menschen wie Nichtmenschen – sagen.
August des Jahrs des Herrn 1052 soll er erstmals erschienen sein: Ein Mann in Mönchshabit und mit Tonsur, aber langem, filzigen Bart. Als schweigsamer Einsiedler trieb er sich nahe den Dörfern um, erzählen die Geschichten, ohne je richtig in Kontakt mit ihnen zu kommen. Man sah ihn schmutzig, Beeren essend, auf bloßem Laubbette schlafend und Steine hievend wie zur Selbstgeißelung. Die gutherzigen Seelen, die ihn ins Dorf schaffen wollten, wies er ab und lebte weiterhin in mönchischer Zurückgezogenheit im Walde.
Viele Zeit später ward er schließlich gar nicht mehr gesehen. Nur wenige Dörfler scherten sich um das Fortbleiben des Fremdlings, doch die, dies es taten, fanden ihn nach ihrer Suche sitzend unter den steinernen Bögen eines Kirchenhauses auf einer Lichtung am Fluss, das sie zum ersten Male selbst sahen. Die einen sagten: Der hat dieses Haus nur gefunden und bereint!; doch waren sich die anderen sicher, er habe es mit Gottes Kraft selbst erbaut.
Doch ganz gleich, wie die Wahrheit sei, er lud sie – Menschen wie Nichtmenschen – ein und brach einen Laib Brot, den er mit ihnen auf den Stufen vor dem Altar teilte. Und er hob seine Stimme, um zu rezitieren den Psalm:
Quam dilecta tabernacula tua, Domine virtutum! Concupiscit et deficit anima mea in atria Domini. Cor meum et caro mea exsultaverunt in Deum vivum.
„Wie lieblich sind deine Häuser, HERR! Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Hallen des HERRN; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.“ (Psalm 84:1-2)
Von diesem Tage an kehrten in der Kapelle Menschen wie Nichtmenschen aus Nähe und Ferne ein, um Heilung und Rast zu finden oder in dieser abgelegenen Gegend auf heiligen Böden zum einen Dreifaltigen Gott zu beten. Denn das Land lag nicht unter dem Schutze eines weltlichen Herrn, bloß unter dem des Herrn im Himmel.
So sammelte sich im Herbst des Jahres 1078 anno Domini – einem bitteren und kühlen Herbst – sämtliches tugendloses Gesindel in verschiedenen Scharen, um untereinander zu klauen und zu rauben. In Angst kehrten mehr und mehr Wesen – Weiber, Männer, Nichtmenschen - in die Kapelle, um Schutz und Trost zu finden. Der Mönch behütete sie durch Segen, Gebete und Verwünschungen der Magie Gottes, die er gegen die Räuber aussprach.
Doch das böse Gesindel warf baldig gierige Blicke auf seine Kapelle. Sie trachteten nach dem Silber, das er reich für die Armen sammelte.
Eines Tages – es war der 333. des Jahres –, da rüttelten Gestampfe und Gejohle die Seelen, die Zuflucht unter dem Kapellendach gefunden hatten, aus ihrem Frieden. Die Räuber steckten das Gotteshaus in Brand, während ein jeder noch darinnen war. Als Rauch und Hitze zu dicht wurden, flohen die Schutzlosen schließlich aus der Türe heraus, und die Räuber ließen sie laufen, damit sie Angst und Schrecken verbreiteten.
Der Mönch selbst nahm gemeinsam mit den Menschenscharen Reißaus und floh in die Wälder – trotz dessen, dass er wusste, dass noch einige verletzte Weiber im Keller verblieben waren. Doch nach wenigem Rennen löste er sich von der Menge und machte kehrt. Um die Verbliebenen zu retten!, sagten sich einige.
Er verschwand und ward an diesem Tage nicht mehr gesehen. Die Weiber, die im Keller verblieben waren, wurden alleine fiebernd und herumstreunend im Walde gefunden. Im Delir erzählten sie, dass eine Gestalt, die gleich eines Engels von hellem Licht umgeben war, den Keller geöffnet hätte. Der Mönch war das!, sagten sie.
Am darauffolgenden Tage suchten und fanden die Überlebenden den Mönch nahe der verbrannten und eingestürzten Kapelle. Sein toter Leichnam lehnte an einem Stamm, gekrümmt nach vorne wie von tödlichen Hustenkrämpfen. In seinen Taschen, da war in rauen Mengen all das Silber, was in der Kapelle gesammelt worden war.
War er nun ein Heiliger, der mit Gottes Segen die Weiber im Keller gerettet hatte? Oder war es nur das Licht der Flammen, das ihn umgeben hatte, und er ein Sündiger, der nur für die Münzen zurückgekehrt war?
Keiner war sich eins, und so betitelten die einen ihn als Heiligen (ganz ohne, dass irgendeine Kirche ihn in die Namen der Heiligen aufgenommen hatte), die anderen aber als habgierigen Scharlatan. Diesen Widersprüchen zu Danke, wuchs er im Laufe der Jahre gemeinsam mit seiner Geschichte zum Halbheiligen heran. Während die Geschichte heranwuchs, verfiel hingegen über die Jahre seine alte Kapelle.
OOC
Dies ist mein Beitrag zum Worldbuilding Event #2 - Die Spuren der Zeit.
Zu finden ist die Kapelle bei: -3461 101 -3185