Das Feuer im Kamin knisterte sanft vor sich hin. Eine alte Dame wippte in gleichmäßigem Takt in ihrem Schaukelstuhl und summte, während sie ihre Stricknadeln geschickt in schnellen, gezielten Bewegungen hantierte. Da hörte die Dame, wie sich die Haustüre leise öffnete und wieder schloss. Ein
zartes Rascheln war im Flur zu hören und schließlich trat ein kleines Mädchen in den Türrahmen des gemütlichen Wohnzimmers.
Die alte Dame blickte auf und lächelte ihr zu. Die Kleine rannte auf die alte Dame in ihrem Schaukelstuhl zu und umarmte sie fast schon etwas stürmisch. „Nicht so hastig, nicht so hastig, meine Liebe. Deine Großmutter ist nicht mehr die Jüngste“, tadelte sie ihre Enkelin schelmisch. Das Mädchen löste sich sogleich von ihrer Großmutter und ließ ihren Blick im Raum umherschweifen.
Sie nahm sich ein großes Kissen und ein dickes Buch aus dem Regal, um sich damit neben den Stuhl ihrer Großmutter zu setzen. Mit fragendem Blick streckte sie das Buch ihrer Großmutter mit beiden Händen entgegen. Diese blickte abermals auf und legte dann nach einem Seufzen die Stricknadeln beiseite, um ihrer Enkelin das Buch abzunehmen. „Welche Geschichte soll es denn heute sein?“, fragte die Großmutter. Die Kleine erhob sich etwas von ihrem Kissen und blätterte eifrig im Buch. Dann zeigte ihr Finger auf eine Seite. Lachend schüttelte die Großmutter den Kopf: „Es stehen so viele Geschichten in diesem Buch, doch jedes Mal soll ich nur diese eine vorlesen. Du musst sie doch mittlerweile auswendig kennen…“ Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern und kuschelte sich auf ihrem weichen Kissen zusammen. „Nun denn“, die alte Dame öffnete das alte Buch und begann die letzte Geschichte daraus vorzulesen:
„In den Tiefen der Meere erzählt man von einer mysteriösen Kreatur. Kein Licht hat dieses Geschöpft je erreicht und so kennt kein lebendes Wesen ihr Erscheinungsbild. Das einzige, was ein jedem von uns übrig bleibt, ist, uns ein Bild von diesem Wesen im Kopfe auszumalen. Und keines dieser Bilder ist wahrhaft richtig. Und keines völlig falsch. Sein Reich ist die stille Finsternis der unendlich tiefen Ozeane. Dort wacht die Kreatur über einen Ort, an dem es keinen Boden und keine Oberfläche mehr gibt. Und sie wird das Ende einläuten.
Die Kreatur ruft uns alle. Irgendwann. Die, die von uns gingen warten bei ihr, bis auch für uns die Zeit gekommen ist, in die Tiefe hinabzusteigen. Und doch soll die Entscheidung für das ‘wann‘ nicht die unsere sein. Und manchmal fühlt sich das Leben so schwer an und wir fragen uns, ob es je einmal wieder
besser werden wird. Und das wird es. Das Geschöpf weiß es und es wird so gut werden, wie wir uns es nie erträumen ließen. Und wenn auch der Funke der Hoffnung zu erlischen droht, so blicke hinaus auf das Meer, denn dort in den Tiefen liegen alle Antworten und liegt alle Hoffnung, die ein jeder zu finden vermag.
Irgendwann, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, werden wir die Kreatur finden und sie wird uns finden. Und wenn wir sie gefunden haben, so werden wir niemals wieder alleine sein. Wir werden zurückblicken und wenn wir bereit sind, dann lassen wir das Leben los. Und so lange wird sie an unserer Seite
warten. Wir treten eine letzte gemeinsame Reise an, die uns in ihr Reich führen wird. Auf dem Weg dorthin werden alle Masken fallen, die sich ein jeder im Laufe seines Lebens auf das eigene Gesicht gepinselt hat. Schicht um Schicht schält sich herab, je tiefer wir sinken.
Und irgendwann werden wir in den unendlich weiten Tiefen die letzte Ruhe finden. An einem Ort, an dem Raum und Zeit, wie wir sie kennen, aufhören zu existieren und unsere Seelen darauf warten, im ewigen Zyklus wiedererweckt zu werden. Denn genauso wie der Tod nicht das Ende ist, ist die Geburt nicht der Anfang ist.
Im Reich jenen Wesens findet einjeder was er benötigt. Alles, was einst verloren ging, wird dort wiedergefunden werden und es wird das dort sein, was wir zu Lebzeiten vermisst haben. Und wir werden sein, wer wir schon immer tief in unserem Inneren waren. Dort blicken wir zurück auf unser Leben, begleitet von leiser Musik, die all unsere Erlebnisse und Erinnerungen enthält. Und wir werden an jenem Ort bleiben, bis alle Wunden geheilt ist.
Das Wesen wacht über uns. Über jeden. Und es urteilt nicht. Denn in seinen Augen ist keine Tat wahrhaft böse und keine ausschließlich gut. Es weiß, dass selbst die, die grauenvolle Dinge vollbringen, einst als unschuldige Wesen geboren wurden und um zu überleben, taten sie, was ihnen gut erschien. Welche Person auch immer wir waren, was auch immer wir getan haben. Am Ende sind wir alle gleich.“
Mit diesen Worten schlug die Dame das Buch vorsichtig zu und blickte auf ihre Enkelin. Diese schaute mit müden Augen zu ihrer Großmutter auf. Zufrieden legte die alte Frau das Buch beiseite und erhob sich. „Na komm, es ist Zeit ins Bett zu gehen“, forderte sie ihre Enkelin mit sanfter Stimme auf. Diese räkelte sich, erhob sich und trug brav ihr Kissen zurück ins Regal.
Das Buch jedoch nahm sie mit ins Bett und legte es unter ihr Kopfkissen. Einige Stunden lang starrte die Kleine an die Decke, ehe sie sich nochmals aus ihrem Bett schälte. Sie nahm das Buch und trat mit vorsichtigen Schritten vor die Tür des kleinen Hauses. Die Kleine ging ein paar Meter um das Haus herum, das Buch fest umklammert, ehe sie sich vor einem kleinen Baum in den feuchten Rasen setzte. Das Buch legte sie auf ihrem Schoß ab. So
saß sie einige Stunden in der ruhigen Nacht.
Im Fenster des Hauses schoben sich nach einiger Zeit die Vorhänge etwas zur Seite und die alte Dame blickte hinaus auf das Mädchen. Sie lauschte ihrer Enkelin, wie diese leise Worte in Richtung des Baumes sprach. Die Kleine hatte so viel verloren. Alle, die ihr je etwas bedeutet hatten, waren nicht mehr da. Und dabei hatte sie noch ihr ganzes Leben vor sich.
Nie mehr hatte sie seitdem mit jemandem gesprochen. Nur in den Stunden, nachdem ihre Großmutter ihr diese Geschichte vorgelesen hatte, schien sie die Sprache für ein paar Augenblicke wiederzufinden. Die Großmutter seufzte, denn es würde das letzte Mal gewesen sein, dass sie diese Geschichte vorgelesen hatte, da die alte Dame wusste, dass auch sie in dieser Nacht den Weg in die unendlichen Tiefen finden würde.
Diese Sage wurde im Jahr 23.848 von einer Stummen Elfe schriftlich überreicht
und unter der Hüterin Calyssara Minervilith nieder geschrieben.
((Danke liebe @Lunora für das schreiben dieser tollen Geschichte))