Der Seelenschlinger

Ein paar Worte vorweg

Der Baum steht auf dem Menschenkontinent bei: -462 / 3933. Diese Geschichte habe ich für das Schreibevent an Halloween 2024 geschrieben. Ist vielleicht etwas verstörend für manche, also nicht lesen, wenn ihr Gruselgeschichten nicht gut vertragen könnt. Sonst wünsche ich viel Spaß beim Lesen und freue mich auf Kritik und Feedback privat (:

Von irgendwo her hörte er Schreie. Panisch drehte er sich um und suchte vergeblich nach der Quelle der Schreie. Der Nebel verschleierte den dunklen Wald – ein Wolf heulte sein Lied gen Himmel. Und dann, ein leises, krächzendes Flüstern. „Komm… ich erwarte dich bereits“


Als die ersten Menschen nach Eldoria kamen, gab es eine kleine Gruppe, die sich zusammenschloss, um eine Gemeinschaft zu gründen. Sie ließen sich in der Nähe eines dichten Waldes nieder und erbauten ihr Dörfchen - sie nannten es „Grimmenforst“.


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In diesem Dorf wurde auch der kleine Malric geboren. Malric liebte das Dorf, in dem er aufwuchs. Die kleinen Gassen, die Geschichten, die die Ältesten am Lagerfeuer erzählten, der alte Brunnen auf dem Marktplatz – Malric wuchs sehr behütet auf. Auch wenn da diese eine Sache war… die alljährliche Ziehung.

Seitdem Malric denken konnte, fand in Grimmenforst eine Zeremonie statt. Als er seine Eltern fragte, weshalb diese Zeremonie durchgeführt wurde, bekam er nie klare Antworten. Niemand redete gern über die Ursprünge der Zeremonie. So auch in dem Jahre, in dem unsere Geschichte stattfindet.

Am letzten Tag des Oktobers versammelten sich die Dorfbewohner auf dem Marktplatz. Es gab ein Fest. Der Dorfschulze stand auf einem Fass, in seiner Hand ein Beutel, welcher bei jeder kleinsten Bewegung raschelte. Malric war mittlerweile 13 Jahre alt. All seine Freunde sehnten sich den Tag herbei, an dem sie ihren Namen hören würden. Malric natürlich auch, weshalb denn nicht? Sein Bauch krampfte sich zusammen, als er mit seinen Eltern auf dem Marktplatz ankam. Gerade rechtzeitig, um dem Dorfschulze bei seiner Rede zuzuhören.

„Es ist wieder soweit. Wir alle freuen uns auf diesen Tag. Mal wieder wird eine tapfere Person aus unserer Mitte ausgewählt, um für uns zu kämpfen.“ Sagte der dicke Mann, während sein Blick über die Menge schweifte. Malrics Mutter, Klara, hob bei den Worten ihren Kopf leicht an und ihre Mimik wurde ernst.

„Es ist eine Tradition, welche es seit Beginn unserer Zeit in diesem schönen Lande gibt. Die tapferen Männer und Frauen, die bereits auserwählt wurden, haben ihren Mut und ihre Treue zu Grimmenforst bewiesen. Es ist ein Amt, welches die ganze Familie mit Ehre erfüllt. Wir wissen: die Wahl muss geschehen, um uns zu retten.“ Sagte der Dorfschulze und nickte bedächtig, ehe er weitersprach. „Vor Jahren entschied sich der Feigling, Rumbert, nicht für uns zu kämpfen. Und was geschah? Der Tod zog über unser Dorf. Frauen, Kinder… niemand blieb verschont. Ihr müsst kämpfen meine treuen Mitmenschen, kämpfen! Was auch geschieht: rennt nicht fort. Seid mutig und macht uns stolz.“

Der Dorfschulze schüttelte den Beutel, den er noch immer in der Hand hielt, einige Male und räusperte sich dann. „Nun denn“ sagte er und steckte seine Hand in den Beutel. Er zog ein Stück Pergament aus dem Beutel und faltete ihn auf. „Der Auserwählte, der uns dieses Jahr retten wird, ist… Malric Zimmermann.“

Ein Schrei ließ allen Anwesenden das Blut in den Adern gefrieren. Klara umklammerte ihren Sohn, der völlig perplex nach vorn starrte. Sofort kamen die zwei Wachen des Dorfes, gemeinsam mit dem Dorfschulze, auf Malric und Klara zu. „Aber, aber Frau Zimmermann… Malric ist der ehrenwerte Mann, der uns beschützen wird. Ihr möchtet doch nicht, dass euer Sohn für den Untergang von Grimmenforst verantwortlich ist, oder?“ sagte der Dorfschulze und strich leicht über die Schulter von Klara, welche bitterlich weinte, während sie ihren einzigen Sohn im Arm hielt. Malrics Vater versuchte den Griff seiner Frau zu lösen und gemeinsam mit den Wachen, schaffte er es. Malric stolperte ein paar Schritte nach vorn. Seine Mutter schluchzte. „Mein Sohn… er ist zu jung…bitte… nicht“ flehte sie und umklammerte Malrics Beine. Malric versuchte sich nun selbst zu lösen. Immerhin war er schon 13 Jahre alt und für sein Empfinden die richtige Person für die Aufgabe. Er musste doch nur einen Baum fällen? Wie schwierig konnte dies sein?

Bei Anbruch der Dunkelheit ging Malric los. Das Dorf versammelte sich am Eingang des Waldes und die Bewohner standen Spalier. Klara wurde von den Wachen festgehalten. Sie schrie immer wieder und flehte Malric an, nicht zu gehen. Doch Malric war entschlossen. Er musste das Richtige tun und mutig sein. In seiner rechten Hand hielt er eine Axt. Das Einzige, was er tun musste, war einen uralten Baum zu fällen.

Unzählige hatten es bereits versucht, doch niemand hatte es geschafft. Alle verschwanden auf geheimnisvolle Art und Weise. Der Rat des Dorfes konnte den Bewohnern dieses Phänomen nicht erklären. Doch alle waren fest davon überzeugt, dass die Auserwählten einen friedlichen Tod starben und ein Opfer für das Wohl des Dorfes erbracht hatten. Denn immer, wenn ein Auserwählter sich auf den Weg gemacht hatte, geschah dem Dorf nichts Schlimmes. Sie litten die normalen Qualen, wie alle Menschen zu jener Zeit. Wenn aber niemand auserwählt wurde und sich niemand in den Wald begab, geschahen in den folgenden Wochen schlimme Dinge im Dorf. Menschen starben auf mysteriöse Weise. Kinder verschwanden aus ihren Betten. Brände zerstörten die Stadt. So entwickelte sich die Tradition der alljährlichen Zeremonie.

Klara wartete die ganze Nacht auf ihren Sohn. Drei Tage saß sie am Waldeingang und wartete. Doch Malric kam nicht zurück. Das Dorf feierte Malric. Sie blieben verschont und ihre Weizenernte war besser als je zuvor.
Klara war schon immer gegen die Tradition in Grimmenforst gewesen. Seit ihr Bruder damals auserwählt wurde und nie wieder zurückkam, sträubte sie sich dagegen diese abstruse Tradition zu feiern. Sie konnte es nicht glauben, wie naiv die Menschen waren, um zu denken, dass die Auserwählten einen friedlichen Tod starben.

Klara saß in ihrem Haus, als sie eine Entscheidung traf. Sie entschied sich dazu, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Ihr Mann war auf dem Marktplatz und konnte sie nicht davon abhalten ihren Gedanken in die Tat umzusetzen. Sie schnappte sich die Axt ihres Mannes und ging zügig aus dem Haus und auf den Wald zu. Der Abend brach bereits über das Land hinein und tauchte alles in ein blaues Licht. Das hielt Klara nicht davon ab weiterzugehen. Ein paar Bewohner des Dorfes schauten ihr verwirrt hinterher. Eine Frau wollte sie gar davon abhalten in den Wald zu gehen und versuchte Klara festzuhalten. Doch Klara riss sich los und sagte nur: „Es ist Zeit.“

Der Wald begann sie zu umhüllen und irgendwann war sie komplett verschwunden. Sie ging immer weiter in den Wald hinein und mit jedem Schritt, den sie tat, wurde es dunkler. Die Axt rutschte in ihrer schwitzigen Hand etwas weiter runter, doch das bemerkte Klara kaum. Sie war darauf fixiert weiterzugehen und ihr Ziel zu finden. Schon seit ihrer Kindheit hatte sie sich diesen Baum vorgestellt. Groß und blätterlos vielleicht. In ihren Vorstellungen war es auch immer dunkel.


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Ein Rabe krächzte über ihr und flog haarscharf an ihr vorbei. Sie zuckte kurz zusammen und schnaubte verärgert aus. Entschlossen setzte sie weiterhin einen Fuß vor den anderen. Jeder ihrer Sinne arbeitete angestrengt. Sie roch Moos und altes Holz. Sie sah die schwarzen Umrisse der Bäume um sich. Sie schmeckte noch den Wein auf ihrer Zunge, den sie kurz vor ihrem Aufbruch getrunken hatte. Sie fühlte die schwere Axt in ihrer Hand und den weichen Boden unter ihren Füßen. Und sie hörte die Geräusche des Waldes. Der Gesang der Vögel, den leichten Wind, der sie umgab und einen Bach, der in der Nähe sanft vor sich hinplätscherte.

Stundenlang ging Klara immer tiefer in den Wald hinein. Immer wieder strich sie sich ihre Haare aus dem Gesicht und immer wieder sah sie ihren Sohn vor sich, wie er gerade in den Wald hinein ging. Die Hoffnung daran, ihn womöglich wiederzusehen, brachte sie immer wieder dazu weiterzulaufen.
Der Mond schien mittlerweile hell über dem Wald. Klara ging immer langsamer weiter. Sie hatte kaum noch Kraft. Doch dann sah sie es. Vor ihr breitete sich ein Nebel aus. Sie ging durch die Nebelwand, ängstlich und doch neugierig. Der Wald lichtete sich immer mehr. Die Bäume bekamen einen größeren Abstand zueinander und die Geräusche des Waldes verstummten leise. Sie hörte kein Tier mehr, keinen Wind und keinen Bach, der plätscherte.

Langsam konnte sie die Umrisse eines riesigen Baumes erkennen. Die Baumkrone schwebte weit über ihr. Es sah aus, als würde der Baum fast den Mond berühren. Der mächtige Stamm breitete sich über mehrere Meter auf dem Boden aus. Ein merkwürdiges Leuchten umgab den Baum. Je näher die junge Frau kam, desto lauter wurde das Flüstern. Sie konnte nur einzelne Worte verstehen. „Komm“ krächzte jemand. „Frisch“ jaulte eine andere Stimme. Klara drehte sich um, um zu schauen, woher die Stimmen kamen. Es fühlte sich an, als würden tausende Augenpaare auf ihr ruhen und jeden ihrer Schritte genaustens beobachten.

Das Flüstern wurde lauter. Ein Stimmengewirr brach über sie herab. Doch eine Stimme konnte sie identifizieren. Marlic sprach mit lieblicher Stimme: „Mutter, du bist da! Komm zu mir!“. Klara versuchte panisch zu erkennen, woher seine Stimme kam. Sie ging näher auf den Baum zu und Marlics Stimme wurde lauter. „Bitte, Mutter. Komm zu mir!“ flüsterte er ihr zu. Sie rannte auf den Baum los und schaute in jede Himmelsrichtung, um ihren Sohn zu finden. „Marlic? Wo bist du, mein Junge? Ich hole dich!“ schrie sie und rannte um den Baum herum.

Langsam krochen Wurzeln aus dem dunklen Boden. Sie reckten sich und bahnten sich ihren Weg aus der Erde in die Freiheit. Klara sah zu Boden und schaute die Wurzeln genauer an. Sie waren weiß und sehr dick. An ihren Enden waren Finger, die sich in die Erde krallten, um weiter nach vorn zu kommen. Klara schrie auf. Die Wurzeln bestanden aus verwesten Armen. Sie ging ein paar Schritte zurück. Ein Arm kam kriechend auf sie zu und wollte gerade ihren Fuß packen, als Klara diesen ruckartig zurückzog.
Sie nahm die Axt und schlug dem Arm die Hand ab. Eine schwarze Wolke dampfte aus dem Arm gen Himmel. Und aus dem angeschlagenen Arm kamen zwei neue Wurzeln hervor, wieder in Gestalt von langen, weißen Armen und Händen.

Klara drehte sich um und rannte los. Wenn man mit genug Menschen herkommen könnte, könnte man den Baum in Brand setzen, oder zumindest die Wurzeln, dachte sie. Eine Hand umklammerte ihren rechten Fuß und sie fiel zu Boden. Sie krallte sich mit ihren Fingern im Boden fest und grub ihre Finger tief in die kalte Erde. Zunächst geschah nichts. Doch dann wurde sie nach hinten gezogen. Immer weiter in den Baum hinein. Sie schrie laut und hinterließ mit ihren Fingern eine lange Kratzspur auf dem Waldboden.

Ein Jahr später…

Klara war nicht tot. Sie konnte noch denken und fühlen. Doch ihren Körper hatte sie verlassen. Sie hatte Hunger und sehnte sich nach frischem Blut. Es war also ein Gefühl von Erleichterung und Verlangen, welches sie überkam, als sie das kleine Mädchen mit der Axt in der Hand auf den Baum zukommen sah.

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Richtig coole gruselige Geschichte

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Danke dir (: