Am Morgen des dreiunddreißigsten Tages der Belagerung von Burg Weißdorn saß Ulrike, Großpriorin des Ordens, Vertreterin der Großmeisterin, in der Burgkapelle, auf den Stufen vor dem Altar, der aufgehenden Sonne hingeneigt. Schreibfeder & Tinte standen säuberlich aufgereiht auf dem Rand, mittig aber das ledergebundene Buch der Chroniken des Ordens, die sie geführt hatte. Ein Buch, das viel zu dünn geworden war. Dem noch zu viele Seiten hinter der nun aufgeschlagenen offenstanden.
Sie schrieb.
Letzter Eintrag in die Chroniken
Dies sancti Flavii Constantini – 20. MaiIm Namen des Herrn.
Mit diesem heutigen Eintrag, geschrieben von mir, Großpriorin Ulrike, soll die Geschichte des Heiligen Ordens der St. Macella enden. Dies ist der letzte Tag der dreiunddreißigtägigen Belagerung der Burg Weißdorn durch den Fünfstädtebund von Hohenfels, Theonopolis, Hadarkh An Zîgîl, Exulor und Raélyn mit Söldnern aus Ghor’Takar und sonstwoher.
Die Großmeisterin ließ den Orden, den Herrn und die Heilige Jungfrau im Stich, und der Orden hat sein kriegerisches Sein nach dem Angriff auf Theonopolis abgelegt. Gott ist dem gewogen, der Leben schützt; so wurde in den Verhandlungen die Auflösung vereinbart, auf dass die Burg nicht im Sturm zerstört und kein Blut sinnlos vergossen werde. Mit dem Sprecher der Zwerge von Hadarkh An Zîgîl vereinbarten wir:
Der Heilige Orden der St. Macella wird sich auflösen.
Die Burg Weißdorn gehe in den Besitz der Knappe Camila, die nun eigene Herrin werde, und unter der Obacht von Hadarkh An Zîgîl und Exulor stehe.
Unsere ehemalige Großmeisterin wird schutzlos und gesucht werden.
Ich, Schwester Ulrike, werde ausgeliefert an Hohenfels & Theonopolis, um für den gesamten Orden die Rechenschaft zu übernehmen, auf dass den Gläubigen vergeben werde.
Die Ordensschatulle wird aufgeteilt unter den Belagerern, die heiligen Reliquien beschlagnahmt.
So sei es geschrieben, so solle es geschehen.
Gott wird verstehen.
Amen.
Somit legte sie die Feder nieder, senkte und barg den Kopf still im Schoße für eine lange Weile. Schließlich erhob sie ihn wieder und blickte geradewegs in das Antlitz der göttlichen Morgensonne. Sie blendete.
Feder und Fass brachte Ulrike zur Seite, nachdem sie aufgestanden war. Sie unternahm nur wenige Schritte und setzte sich in eine Ecke der Kapelle, wo das Licht nicht hin fiel. Einige Minuten durchblätterte sie die vorangehenden Seiten der Chronik und behielt schließlich die letzte aufgeschlagen. Sie begann zu malen unter dem Geschriebenen, aus dem Kopf und dem Motiv einer Malerei, die sie vor Jahren gesehen hatte. Doch sie wurde nicht annähernd fertig, da war es schon Abend, und eine Wächterin kam, um sie zu begleiten, und brachte das Wachssiegel. So besiegelte Ulrike die letzte Seite der Chronik und machte sich auf, den Belagerern entgegenzutreten.