Eine lehrreiche Reise und eine nette Begegnung
Nacra wachte schreiend auf. Wie schon die letzten Tage zuvor, konnte sie kaum bis gar nicht schlafen. Und sie hatte wieder einen schlimmen Albtraum. Schweißgebadet und schnell atmend setzte sie sich auf und wischte sich die Tränen weg. Innerlich ohrfeigte sie sich aber, weil sie wieder Schwäche gezeigt hatte. Sie war sich nämlich sicher, dass Grim in ihr nur ein hilfloses Kind sah, dass sich vor allem fürchtete und eine schreckliche Heulsuse war, auch wenn es keinen Grund dafür gab, so etwas zu glauben. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. „Komm her, mein Kind“ Grim zeigte ihr, dass sie sich neben ihn setzen sollte. Nach kurzem zögern gesellte sie sich zu ihm und schaute mit vom Weinen geröteten Wagen den Mann an.
„Weißt du, mein Kind, als ich so alt war wie du, da war ich auch schon auf mich allein gestellt. Ich hatte Eltern, aber auch in meinen jungen Jahren wurde ich von ihnen getrennt. Sie wurden versklavt, schätz’ ich. Es war nicht einfach ohne sie auszukommen. Nein. Es war sehr sehr schwer. Denn Eltern sind dazu da dich aufs Leben vorzubereiten. Und als sie nicht mehr da waren, musste ich mir alles selber aneignen. Und als ein kleiner Junge in Zeiten des Krieges ging das nicht so leicht. Aber das was ich von da an alles durchgemacht habe, macht mich zu dem, der ich jetzt bin.
Ich habe viele schöne, viele schlimme, viele lustige und lehrreiche Jahre hinter mir. Mal war ich glücklich und manchmal am Boden zerstört, aber ich gab nicht auf. Ich machte weiter.
Auch wenn du mir nicht glauben magst, ich kann tatsächlich ein wenig verstehen wie du dich fühlst. Von einem Moment auf den anderen ist alles anders. Ungewohnt und fremd. Es fühlt sich nicht real an. Aber eines solltest du wissen, mein Kind. Es ist in Ordnung zu weinen. Es ist auch in Ordnung sich manchmal schwach zu fühlen. So sind wir nun mal. Mein Kind, wann immer du mich brauchst, ich werde bei dir sein und dir zuhören. Gebe nicht auf. Du musst nicht alleine Kämpfen.“
Der alte Mann schaute zu Nacra. Ihre großen Augen waren wieder voller Tränen. Dann wandte sie den Kopf ab und das erste mal seit langem huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie schniefte leise.
„Ich wollte doch nicht mehr weinen“
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Auf ihrer Reise lernte und sah sie viele Dinge. Die Jahre mit Grim flogen an ihr vorbei und sie wurde erwachsener. Sie wusste nicht, was alles auf sie zukommen würde, aber durch Grim fand sie wieder neuen Lebenswillen. Sie wollte die Welt erkunden. Andere Kulturen und Rassen kennen lernen.
Grim war wie ein Vater für sie. Mal streng. Mal nett. Aber ihre Verbindung wurde mit jedem Tag enger.
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„Das war ja nicht mal annähernd gut! Nochmal, aber jetzt mit mehr Genauigkeit, wenn ich bitten darf!“
Grim stand mit verschränkten Armen neben Nacra, die vergeblich versuchte mit Pfeil und Bogen einen Apfel am Baum zu treffen.
Schon seit unzähligen Jahren reiste Nacra mit dem alten Mann. Sie hatte sich sehr verändert. Aus ihr ist eine richtige junge Frau geworden. Sie war nun größer, erfahrener und weiser.
Der Greis hatte ihr in ihren jungen Jahren verschiedene Arten gezeigt, sich selbst zu verteidigen, die sie nun alle beherrschte. Der alte Mann selbst war vielleicht nicht mehr der Jüngste aber er war immer noch sehr fit und Nacra hatte manchmal Schwierigkeiten mit ihm mitzuhalten.
Sie erlernte den Umgang mit Waffen.
Das einzige was sie noch nicht konnte, war das Bogenschießen.
Wieder spannte sie den Bogen, schaute auf ihr Ziel und schoss ab. Aber wie zuvor, traf sie nicht.
„Ach, ich werde das nie schaffen“
Grim seufzte. „Gut, warte hier, ich bin gleich da“
Das Mädchen schaute dem Mann fragend nach. Sie wusste, dass Aufgeben keine Option war, aber sie war sehr erschöpft und ihre Hände waren schon wund vom stundenlangen trainieren.
Nacra schaute überrascht auf, als neben Grim plötzlich ein junger Mann auftauchte. Er war ungefähr einen Kopf größer als sie und seinem Körper nach zu urteilen, war er auch viel stärker und muskulöser.
Auch er schaute die junge Frau neugierig an und hielt ihr die Hand hin.
„Noah“
Sie zögerte, aber reichte ihm dennoch ihre Hand und schüttelte sie.
„Nacra“
Grim schaute die beiden amüsiert an.
„Noah ist ein guter Freund mir. Ich bat ihn zu kommen, um dir beim Schießen zu helfen, weil du ja noch schwächelst“
Nacra verdrehte die Augen und nahm den Bogen in die Hand. Dann schaute sie Noah an.
„Gut, bring es mir bei“
Sie stellte sich wie gewohnt hin, zielte und wollte gerade abschießen, als sie plötzlich Noahs Hände an ihren eigenen spürte.
„Halt. Wenn du so schießt, triffst du ja auf keinen Fall etwas. Lass mich dir helfen, sonst wird das hier nichts“
Nacra schluckte, weil er ihr zu nah war, aber widersprach nicht.
Noah korrigierte die Haltung ihrer Finger am Griff und half ihr beim Anspannen.
„Die Zughand muss gestreckt und in einer Linie zum Unterarm liegen“
Dann lehnte er sich zu ihr und richtete den Pfeil in Richtung Apfel.
„Gut. Jetzt Luft anhalten und…“
Er machte eine Pause und flüsterte Nacra ins Ohr.
„Abschießen“
Sie tat, was er sagte. Der Pfeil schoss durch die Luft und traf den Apfel perfekt in der Mitte. Nacra war sprachlos.
„Ich hab getroffen?!“
Sie schaute zu Noah, der schmunzelnd nickte.
„Ich hab getroffen! Grim, hast du das gesehen?!“
Grim lachte kurz und lächelte.
Zusammen mit Noah trainierte sie noch eine Zeit lang und verbesserte sich allmählich. Er war tatsächlich ein guter Lehrer.
Die beiden redeten noch eine Weile miteinander und wie sich herausstellte, lebte Noah an den Grenzen zu Parsifal. Parsifal war eines ihrer nächster Reiseziele, wie sie von Grim erfuhr. Sie war schon sehr gespannt, wie es dort war.
Bevor Noah sich wieder auf den Weg machte, lehnte er sich zu ihr vor und zeigte mit dem Finger auf seine Wange.
„Ich will meine Belohnung“
Nacra schaute verwirrt zum Greis, dieser zuckte aber nur mit seinen Schultern.
„War Teil der Abmachung. Tut mir leid, dass ich dir nicht vorher davon Bescheid gesagt habe“
Nacra seufzte und gab Noah einen Kuss auf die Wange. Dann schaute sie beschämt aber lächelnd weg. Ihr Bauch kribbelte, aber versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
„Zufrieden?“
„Und wie“ Der junge Mann lachte und zwinkerte ihr zu.
„Bis zum nächsten mal, Süße“
Mit diesen Worten verließ er die beiden.